Krieg in Israel

Lange vorbereitete Eskalation: Warum kam der Hamas-Angriff ausgerechnet jetzt?

  • VonTadhg Nagel
    schließen

Der Krieg in Israel fordert auf beiden Seiten viele Menschenleben. Hinter dem Angriff der Hamas steckt ein mögliches Kalkül der Terrororganisation.

Gaza - Die israelische Regierung hat für die überraschenden Angriffe der Hamas, bei denen mindestens 1200 Israelis getötet wurden und weitere 150 Zivilisten als Geiseln genommen wurden, massive Konsequenzen angedroht. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat Rache geschworen und eine Zerstörung der Hamas angekündigt. Die US-Regierung rechnet zeitnah mit einem Bodenangriff auf den Gazastreifen.

Bereits jetzt haben mindestens 950 Palästinenser durch israelische Luftangriffe ihr Leben verloren. Eine solche Reaktion dürfte auch für die Hamas nicht überraschend kommen. Mit ihrem Angriff hat sie aber hohe zivilen Opferzahlen auf beiden Seiten in Kauf genommen. Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, welches Motiv die islamistische Organisation für den Krieg in Israel hat, dennoch gibt es mögliche Erklärungen.

Zerstörte Gebäude in Gaza - Hamas nimmt zivile Opfer in Kauf.

Israels instabile innenpolitische Lage begünstigt den Krieg - Netanjahu wird seinem Image nicht gerecht

Der Zeitpunkt für den Angriff scheint durch die instabile innenpolitische Lage in Israel hervorragend gewählt. Premierminister Netanjahu, der sich in der Vergangenheit immer wieder als Hardliner im Kampf gegen palästinensischen Terrorismus inszeniert hat, steht unter hohem Druck. Seine Bemühungen, die Macht des Obersten Gerichtshofs Israels erheblich zu schwächen, führten zu Massenprotesten. Er selbst wurde wegen Bestechung, Betrug und Untreue angeklagt. Zwar gibt es eine Kernanhängerschaft seiner rechten Regierung, die zum Teil aus offen rassistischen Ministern besteht und seit längerem ein härteres Vorgehen gegen die Palästinenser fordert. Der Angriff, und vor allem die Geiselnahmen, stellt sein Image jedoch empfindlich infrage.

Besonders schwierig ist die Lage für die israelische Regierung wegen der vielen Geiseln, die die Hamas bei ihrem Überfall aufs israelische Grenzgebiet genommen hatte. Sie stellen ein wirkungsvolles Druckmittel für die Terrororganisation dar. In der Vergangenheit hat Israel jahrelang verhandelt, um seine Staatsbürger - und sogar ihre toten Körper - zurückzubringen. Der Politikwissenschaftler Peter Neumann, der zu islamistischem Terror forscht, vermutete dahinter gegenüber ntv einerseits eine Machtdemonstration. Andererseits hätten sie die Funktion, „die Israelis in den Gazastreifen zu locken“. Das berge dann die Gefahr, dass es Häuserkämpfe gebe, die „ganz hässliche Bilder produzieren“. Diese würden dann die Wut der Palästinenser weiter anfachen.

Hamas nutzt Wut für eine „eine Täter-Opfer-Umkehr“ - Unterstützung der Bevölkerung braucht sie dringend

Eine solche Wut werde die Hamas dann nutzen, um „eine Täter-Opfer-Umkehr“ zu betreiben. Mit dem Bemühen, Israel als genauso schlimm wie sich selbst darzustellen, werde dann „versucht, die ‚arabische Straße‘ für sich selbst und gegen Israel zu mobilisieren“. Die Wut der Palästinenser solle damit eine Unterstützung der Gewalt gegen Israel - und dem erklärten Ziel der Hamas, der Zerstörung des israelischen Staats - hervorrufen.

Für die Hamas ist eine solche Unterstützung durch die Bevölkerung dringen nötig, da ihre Bilanz bei der Verwaltung des Gazastreifens lückenhaft ist. Seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2007 hat die Hamas-Führung versucht, die Palästinenser davon zu überzeugen, dass sie und nicht die palästinensische Autonomiebehörde (PA) besser regieren kann. Teilweise ist das gelungen, trotz der internationalen wirtschaftlichen Isolation erbringt die Hamas Dienstleistungen wie Müllabfuhr und Strafverfolgung weitaus effektiver als ihre PA-Vorgänger in Gaza, wie das US-Portal Foreign Policy schreibt. Zudem präsentiere sich die Hamas als weniger korrupt als die PA-Führer.

Hamas kann nur begrenzen Führungsanspruch erheben - Krieg in Israel als Selbstinszenierung?

Trotzdem ist die Hamas nur begrenzt in der Lage, einen Führungsanspruch zu erheben, der auf der Qualität des Lebens der einfachen Palästinenser beruht, da diese mit hoher Arbeitslosigkeit und großer Armut kämpfen. Innenpolitisch könnte die Organisation punkten, wenn es ihr gelingt zu zeigen, dass sie - im Gegensatz zur PA - den Israelis etwas entgegenzusetzen vermag. Auch die Unterstützung extremerer Elemente ihrer eigenen Organisation und potenzieller Konkurrenten, allen voran des „Islamischer Dschihad in Palästina“ könnte der Hamas so in die Hände fallen. So könnten sich die Islamisten weiterhin als Stimme des Widerstands gegen die israelische Besatzung des Westjordanlands und die Abriegelung des Gazastreifens inszenieren.

Was ist der „Islamische Dschihad in Palästina“

Der „Islamische Dschihad in Palästina“ (auch: „Al-Quds-Brigaden“) ist eine militant islamistische Gruppierung, die sich für den bewaffneten Widerstand gegen Israel und die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates in den von Israel besetzten Gebieten einsetzt. Die Organisation wurde 1981 im Gazastreifen gegründet und ist separat von der palästinensischen Hamas-Bewegung. Beide teilen ähnliche politische Ziele. Auch an dem Überfall auf Israel soll die Organisation beteiligt gewesen sein.

Die Gruppe ist bekannt für ihre Beteiligung an bewaffneten Konflikten mit Israel und hat wiederholt Raketenangriffe auf israelische Städte durchgeführt. Sie wird von einigen Ländern, einschließlich Israel und den Vereinigten Staaten, als terroristische Organisation eingestuft. Erklärtes Hauptziel ist die Beseitigung des Staates Israel und die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates, der das Westjordanland, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem umfasst. Der Islamische Dschihad in Palästina hat auch enge Verbindungen zum Iran und erhält oft Unterstützung von der Islamischen Republik.

Anführer der Hamas verweist auf Westjordanland - Israelischer Siedlungsbau als Rechtfertigung für Gewalt?

Mohammed Deif, der Anführer des militärischen Flügels der Hamas, machte diesen Anspruch in einer aufgezeichneten Botschaft bereits deutlich. Unter Verweis auf die israelische Besetzung des Westjordanlandes sagte er, man habe beschlossen, das israelische „Verbrechen“ zu beenden. Das Westjordanland wurde im arabisch-israelischen Krieg von 1967 erobert und ist seitdem unter israelischer Militärverwaltung. Weitere Gebiete des 1947 im Rahmen des Teilungsplans dem noch zu gründenden arabischen Staat zugesprochenen Territorium wurden von Israel 1980 – laut einer UN-Sicherheitsratsresolution völkerrechtswidrig – annektiert. Israel hat dort seitdem zahlreiche Siedlungen gebaut und Anwohner vertrieben, was international scharf kritisiert wurde.

In den vergangenen Jahren kam es hier immer wieder zu Gewalttaten gegen Palästinenser, in letzter Zeit sind die Fälle stark angestiegen. Das israelische Militär griff bei Überfällen auf palästinensische Bauern nicht ein. Neben dem Westjordanland verwies Mohammed Deif laut Reuters auf die Vorgänge rund um die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Er habe mit den Planungen für den Angriff auf Israel nach einer Razzia auf diese drittheiligste Stätte des Islams begonnen. Israelische Kräfte waren damals während des Ramadan gewaltsam in die Moschee eingedrungen. Der Standort des Gebäudes ist auch für Juden heilig, früher waren dort zwei jüdische Tempel gestanden. Juden dürfen in die Anlage, dort aber nicht beten; immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen.

Angriff der Hamas ist keine spontane Reaktion - Auch das Datum des Überfalls ist kein Zufall

Auch vergangene Woche waren israelische Siedler in die Moschee eingedrungen, um zu beten. Trotzdem scheint ausgeschlossen zu sein, dass der Überfall der Hamas eine spontane Reaktion hierauf ist. Eine Hamas-nahe Quelle hat gegenüber Reuters offengelegt, dass die Organisation eine jahrelange Kampagne geführt habe, um Israel vorzugaukeln, dass die Gruppe keinen bewaffneten Konflikt wolle und mit wirtschaftlichen Anreizen beschwichtigt werden könne. Man habe „in den letzten Monaten eine beispiellose nachrichtendienstliche Taktik angewandt, um Israel in die Irre zu führen“. Auch das Datum des Überfalls ist kein Zufall - es ist fast genau der 50 Jahre nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges, bei dem arabische Staaten 1973 Israel überfallen hatten.

Ein halbes Jahrhundert später hat sich die Situation mit Israels Nachbarn deutlich verbessert. Vor allem in den letzten Jahren hat sich Israel unter Vermittlung der USA an Saudi-Arabien angenähert. Zusammen mit Bahrain hatten sie 2020 als erste Golfstaaten ein Abkommen mit Israel unterzeichnet. Auch Marokko und der Sudan hatten daraufhin angekündigt, ihre Beziehungen zu Israel normalisieren zu wollen.

Vor allem haben sich jedoch die Beziehungen zu den direkten Anrainern Israels verbessert. Mit Ägypten konnte 1979 ein Friedensabkommen unterzeichnet werden, das einen 30-jährigen Kriegszustand beendete. 1994 wurde mit Jordanien, das über 46 Jahre mit Israel im Krieg gewesen war, ein ähnliches Abkommen erzielt. Die Hamas könnte nicht zuletzt darauf hoffen, dass ein israelischer Einmarsch in den Gazastreifen, und die daraus resultierende Gewalt, diese Bemühungen zunichtemacht. (tpn)

Rubriklistenbild: © IMAGO/Bashar Taleb\ apaimages