Experte fordert „zielgerichtete Instrumente“
Frührente-Studie enthüllt überraschende Fakten – welche Berufe von der „Rente mit 63“ profitieren
VonKai Hartwigschließen
Die „Rente mit 63“ sollte besonders belastete Berufsgruppen stärken. Doch eine aktuelle Studie zeigt: Oft sind ganz andere Nutznießer der Frührente.
München – Wer die Voraussetzungen erfüllt, kann sich vorzeitig in den Ruhestand verabschieden. Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) stellt klar: „Nach einer Versicherungszeit von 45 Jahren können Sie grundsätzlich früher in Rente gehen.“ Obwohl die „Rente mit 63“ in der Gesellschaft häufig diskutiert wurde, ist diese Bezeichnung aufgrund der schrittweisen Anhebung des Rentenalters nicht mehr zutreffend. Das Renteneintrittsalter variiert je nach Geburtsjahr.
Erstaunliche Erkenntnisse zur „Rente mit 63“ in neuer Frührente-Studie
Die „Rente mit 63“ wurde ins Leben gerufen, um insbesondere Berufe mit hoher physischer oder psychischer Belastung zu unterstützen. Arbeitnehmer aus diesen Berufsgruppen sollten die Möglichkeit haben, nach einer anspruchsvollen Karriere einen früheren Ruhestand in Betracht zu ziehen. Die CDU strebt jedoch die Abschaffung dieser Frührentenregelung an.
Frank Bsirske, ehemaliger Chef der Gewerkschaft ver.di und nun für die Grünen im Bundestag, warnte bereits 2023 vor den Konsequenzen einer Abschaffung der „Rente mit 63“. Er betonte, dass insbesondere Beschäftigte in der Pflege oder in Kindertagesstätten betroffen wären. „Für diese Menschen hätte ein Ende der ‚Rente mit 63‘ fatale Folgen“, äußerte er gegenüber der Bild am Sonntag. Ein Expertenbericht zeigt jedoch, dass oft andere Berufsgruppen von der abschlagsfreien Rente nach 45 Jahren profitieren.
Eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigt, dass die abschlagsfreie Frührente nach 45 Jahren oft nicht denjenigen zugutekommt, die in ihrem Beruf stark belastet waren. Die Studie stellt fest: „Fast 70 Prozent der westdeutschen Männer des Jahrgangs 1957 mit mindestens 45 Versicherungsjahren waren insgesamt nicht sehr hoch körperlich oder psychisch belastet.“ Die Ergebnisse zeigen, dass nur 30,6 Prozent der Frührentner im Laufe ihres Arbeitslebens stark belastet waren, während die Belastung bei fast 40 Prozent leicht bis mäßig war.
DIW-Studie zur abschlagsfreien Frührente
Für ihre Studie werteten die DIW-Experten Arbeitsmarktbiografien von knapp 8000 deutschen Männern des Geburtsjahrgangs 1957 aus. Man beschränkte sich auf westdeutsche Männer, die überwiegend abhängig beschäftigt waren (ohne Beamte). Für diese Gruppe kann in den Daten aus dem Jahr 2021 fast die gesamte Erwerbsbiografie betrachtet werden.
Zur Beschränkung der Daten auf diese Gruppe wurden vereinfachend alle Männer ausgeschlossen, die im Alter von 40 Jahren und höher keine Zeiten der sozialversicherungspflichtigen oder geringfügigen Beschäftigung sowie der Arbeitslosigkeit aufweisen. Frauen können nicht berücksichtigt werden, da die Daten des IAB keine detaillierten Informationen zu Kindern und Kindererziehungszeiten enthalten. Diese spielen für die Versicherungszeiten von Frauen eine wesentliche Rolle. Männer machen in der Regel keine Kindererziehungszeiten geltend.
(Quelle: DIW-Studie)
Experte fordert dringend „zielgerichtete Instrumente“ für die Frührente
Lars Feld, Mitautor der DIW-Studie, sieht dringenden Handlungsbedarf bei der Frührente. „Die Zahl der Rentenversicherungsjahre sagt nicht unbedingt etwas über die berufliche Belastung aus. Wir brauchen zielgerichtete Instrumente, die sicherstellen, dass besonders belastete Berufsgruppen, die oft gar nicht auf 45 Versicherungsjahren kommen, nicht durchs Raster fallen“, zitiert die Studie den Rentenexperten. Möglicherweise könnte Österreich als Vorbild dienen.
Die DIW-Studie nennt exemplarisch einige Berufsbereiche und unterteilt sie nach Belastungsgrad. Die Erhebung stuft folgende Berufsgruppen als niedrig belastet ein:
- Berufe in der Vermessungstechnik
- Berufe in der Umweltschutztechnik (ohne Spezialisierung)
- Berufe in der Systemadministration
- Berufe im Vertrieb (außer Informations- und Kommunikationstechnologien)
- Bankkaufleute
- Berufe in der öffentlichen Verwaltung (ohne Spezialisierung)
- Aufsichts- und Führungskräfte – Verwaltung
- Berufe in der Öffentlichkeitsarbeit
Zu den Berufsgruppen mit hoher Belastung gehören laut der DIW-Studie:
- Gartenbau
- Fleischverarbeitung
- Maurerhandwerk
- Fliesen-, Platten- und Mosaikverlegung
- Kassierer/Kassiererinnen und Kartenverkäufer/Kartenverkäuferinnen
- Gastronomie
- Gesundheits- und Krankenpflege (ohne Spezialisierung)
- Altenpflege (ohne Spezialisierung)
Typische physische und psychische Belastungen am Arbeitsplatz – Arbeitsprozesse spielen eine Rolle
Die Studie erläutert weiter: „Arbeitsbelastungen bezeichnen die Bedingungen der Tätigkeit, die sich auf die physische oder psychische Gesundheit der Beschäftigten auswirken können. Typische physische Belastungen am Arbeitsplatz entstehen beispielsweise durch eine starke oder einseitige Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems, durch Unfallgefahren oder den Kontakt mit gesundheitsschädlichen Stoffen.“
Die Studie weist auf den starken Zusammenhang zwischen Arbeitsablauf und psychischer Belastung hin. Je nach Organisation der Arbeitsprozesse können „Zeitdruck, Monotonie oder auch fehlende soziale Kontakte“ entstehen.
Laut den Autoren der Studie „nutzt derzeit fast ein Drittel der Personen, die neu in Altersrente gehen, die Möglichkeit eines frühzeitigen Renteneintritts ohne Abschläge nach einer besonders langen Erwerbskarriere“. Wer die Frührente aufgrund von Abschlägen für zu niedrig hält, hat dennoch einige Alternativen. (kh)
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