Top-Ökonom gegen „Sozialstaat-Populismus“

Bürgergeld abschaffen? Wie eine Grundsicherung-Reform ablaufen sollte

  • VonMax Schäfer
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Top-Ökonom Marcel Fratzscher kritisiert den „Sozialstaat-Populismus“ und hat einen anderen Ansatz als Sanktionen und Arbeitspflicht. Wie sieht die Bürgergeld-Reform aus?

Berlin – Union, FDP und AfD wollen die Wählerschaft vor der Bundestagswahl mit Forderungen nach Steuererleichterungen locken. Dadurch wollen die Parteien die Wirtschaft wieder in Gang bringen. Finanzieren wollen sie ihre Versprechungen wiederum mit Einsparungen beim Sozialstaat. Besonders im Fokus: das Bürgergeld und dessen Beziehende. Durch die „Neue Grundsicherung“ der Union oder die „aktivierende Grundsicherung“ der AfD drohen ihnen geringere Zahlungen, härtere Sanktionen bis zur kompletten Streichung und eine Arbeitspflicht.

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), kritisiert die laufende Bürgergeld-Debatte. „Durch diesen Sozialstaat-Populismus schieben diese Parteien die Verantwortung für die finanziell angespannte Lage des Staates auf die schwächsten und verletzlichsten Menschen.“ In seiner Zeit-Kolumne erklärt der Ökonom: „Wir brauchen keinen Abbau der sozialen Marktwirtschaft, sondern kluge Reformen der Sozialsysteme, damit diese zielgenauer und effektiver werden.“

Fratzscher fordert Bürgergeld-Reform: „Nicht Faulheit, sondern fehlende Chancen“ sind das Problem

Fratzscher setzt dabei bei den etwa 1,7 Millionen Menschen im Bürgergeld-System an, die erwerbsfähig sind und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. „Eine ehrliche Analyse der Zahlen zeigt: Die große Mehrheit dieser 1,7 Millionen Menschen hat weder Schul- noch Berufsabschluss und ist für den Arbeitsmarkt unzureichend qualifiziert. Zudem haben viele gesundheitliche Probleme“, erklärt Fratzscher.

Bei einer Bürgergeld-Reform sollte ein Fokus bei der Qualifizierung der Erwerbslosen liegen, fordert DIW-Präsident Marcel Fratzscher. (Montage)

Die Folgerung: „Nicht Faulheit, sondern fehlende Chancen und eine mangelnde Infrastruktur sind bei Weitem die Hauptgründe, weshalb Menschen in Deutschland Bürgergeld beziehen.“ Sanktionen seien deshalb nicht das Mittel. Kurzfristig könne nur ein „kleiner einstelliger Milliardenbetrag“ – deutlich mehr als die Kosten der geforderten Entlastungen – eingespart werden.

Bürgergeld-Kürzungen und harte Sanktionen machen Integration in Arbeit „nicht leichter, sondern schwerer“

Geringere Leistungen, wie sie von den Parteien des liberal-konservativen und rechtsradikalen Spektrum gefordert werden, verschlechtern laut Fratzscher die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche, führen zu Stigmatisierung und Ausgrenzung und machen damit eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt „nicht leichter, sondern schwerer“.

Die Folge: „Langfristig dürfte es die Anzahl der Arbeitslosen und die Länge der Arbeitslosigkeit erhöhen und vor allem junge Menschen hart treffen — und den Staat das Vielfache von dem kosten, was er kurzfristig einsparen könnte“, schreibt der DIW-Präsident in seiner Zeit-Kolumne. Vor den Spätfolgen von Kürzungen bei Jobcentern hatte auch das Bundesnetzwerk für Arbeit und Soziale Teilhabe gewarnt.

Fratzscher will bei Bürgergeld-Reform in Qualifizierung und Teilhabe investieren

Statt Gelder und Leistungen zu kürzen, solle die künftige Bundesregierung das Bürgergeld reformieren „und kurzfristig sogar mehr Geld dafür ausgeben“, erklärt Fratzscher. „Denn eine gute Integration der 1,7 Millionen Bürgergeld-Empfänger, die grundsätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, erfordert Investitionen in Qualifizierung und Betreuung.“ Dazu sei eine Weiterentwicklung der Jobcenter wichtig. Diese brauchen mehr Ressourcen. Zudem erfordere es eine Stärkung der Jobcenter in Bezug zu den Mitwirkungspflichten der Beziehenden.

Das „noch größere Potenzial“ sieht Fratzscher jedoch bei den Bürgergeld-Beziehenden, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Dazu seien Investitionen in Kita- und Schulplätze sowie in die Pflege nötig, „damit vor allem Frauen wieder mehr Chancen im Arbeitsmarkt haben“. Gerade langzeiterwerbslose Frauen im Bürgergeld sind bei der Integration in Arbeit bisher benachteiligt. „Denn viele der Betroffenen wollen arbeiten, schaffen es aber zeitlich nicht, weil die öffentliche Daseinsfürsorge schlichtweg unzureichend ist“, erklärt Fratzscher.

Bürgergeld-Reformen Fratzschers würde „Abhängigkeit vom Sozialstaat“ reduziert

Neben dem Ausbau von Betreuungsangeboten sieht der DIW-Ökonom Reformen des Ehegattensplittings und der Minijobs als wichtig an. Damit solle sich Arbeit wieder mehr lohnen, nicht nur für Bürgergeld-Beziehende, sondern für viele mit geringen und mittleren Einkommen. „Dies würde keine zusätzlichen Ausgaben vom Staat verlangen, sehr wohl aber ein Umdenken und progressivere Werte bei vielen konservativen Politikern“, schreibt Fratzscher. Durch die Reformen würde mehr Teilhabe geschaffen und die Abhängigkeit vom Sozialstaat reduziert. „Das spart dem Staat langfristig viel Geld, schafft Beschäftigung und ist auch der beste Beitrag zu mehr Fairness in unserer Gesellschaft.“

Nicht nur Fratzscher kritisiert die aktuelle Sozialstaat-Debatte. Auch IG Metall-Sozialvorstand Hans-Jürgen Urban sieht die Forderungen nach einer Arbeitspflicht für Bürgergeld-Beziehende als „moralische Verlotterung“. Statt beim kleinen Teil der sogenannten „Totalverweigerer“ will er bei den Aufstockenden ansetzen. „Darüber sollte man reden und darüber, wie der Weg in auskömmliche Jobs ermöglicht wird.“

Rubriklistenbild: © Jens Kalaene/Kay Nietfeld/dpa

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