Enormer Druck

Neue Erziehungsmethoden treiben Eltern an die Belastungsgrenze

  • VonSabrina Reisinger
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Dauerhafter Stress und kaum Zeit zur Regeneration: Eltern erleben eine nie zuvor dagewesene Belastung. Aktuelle Erziehungstrends tragen ebenfalls zur Schwierigkeit bei.

Eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) ergab, dass 62 Prozent der Eltern mit minderjährigen Kindern sich häufig oder sogar sehr häufig gestresst fühlen. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass ihr Stress in den vergangenen ein bis zwei Jahren zugenommen hat. Knapp 70 Prozent fühlten sich aufgrund hoher Belastungen erschöpft oder ausgebrannt. Doch woher kommen diese erschreckenden Zahlen eigentlich?

Immer mehr Verpflichtungen: Eltern sind mittlerweile chronisch überlastet

Der Spagat zwischen Beruf und Familie setzt Eltern heutzutage stark unter Druck. „Sie müssen weitaus mehr leisten als ihre Eltern und Groß­eltern“, erklärt der Familienforscher Prof. Hans Bertram gegenüber GEOkompakt. In der Nachkriegszeit habe eine Familie der Arbeitswelt durchschnittlich 48 Stunden zur Verfügung gestellt. Heute seien es 72 Stunden, denn in der Regel arbeiten beide Elternteile.

Eltern stehen heutzutage dauerhaft unter Druck – ob auf der Arbeit oder zu Hause.

Das hat natürlich Folgen für die mentale Gesundheit von Eltern. „Sie sind überlastet, weil ihnen alles gleichzeitig abverlangt wird: Sie sollen im Beruf Höchstleistung bringen, Karriere machen, eine Familie gründen und sich fürsorglich um Kinder kümmern, um denen wiederum einen Start in ein erfolgreiches Leben zu ermöglichen“, schildert Bertram.

Eltern unter Druck: Moderner Erziehungsansatz verstärkt Belastung

In den USA sieht die Situation für junge Eltern nicht besser aus. Die Krise veranlasste sogar Surgeon General Vivek Murthy, Leiter des öffentlichen Gesundheitsdienstes, dazu, ein offizielles Health Advisory mit dem Titel „Parents Under Pressure“ (Deutsch: „Eltern unter Druck“) zu veröffentlichen. „Wir wissen, dass das Wohlbefinden von Eltern und Betreuern direkt mit dem Wohlbefinden ihrer Kinder verbunden ist“, heißt es darin.

Heutzutage stünden Eltern vor einzigartigen Herausforderungen. Dazu gehöre beispielsweise der Umgang mit den sozialen Medien. Aber auch die Tatsache, dass unverhältnismäßig viele Jugendliche mit psychischen Problemen zu kämpfen haben oder an Einsamkeit leiden, belaste Eltern.

Außerdem macht der Surgeon General darauf aufmerksam, wie problematisch moderne Erziehungstrends sind. Dazu gehört der Ansatz des sogenannten „intensive parenting”, also einer „intensiven Elternschaft“. Im Grunde meint das eine bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung. Laut Psychology Today sieht es dieses Konzept vor, dass Eltern überproportional viel Zeit, Energie und Geld in ihre Kinder investieren. Beispielsweise werden Kinder weite Strecken zu außerschulischen Aktivitäten gefahren und ihnen wird teurer Reit- oder Tennisunterricht bezahlt.

Mental Load, Stress, Schlafmangel, Einsamkeit: Dinge, die sich Eltern mit Kind anders vorgestellt haben

Mutter liegt mit Baby in der Wiese
Die Elternzeit wird schön, endlich Freizeit, wie Urlaub, abschalten und die Zeit mit dem Baby genießen, viel spazieren gehen, die angefangenen Bücher fertig lesen, neue Kochrezepte ausprobieren. Was sich gerade Mütter während der ersten Schwangerschaft ausmalen, entspricht in vielen Fällen nicht dem, wie es dann wird. Manche Mütter und Väter fühlen sich vom neuen Lebensabschnitt überrollt und trotz aller Vorbereitungen doch nicht genug vorbereitet. (Symbolbild) © Kzenon/Imago
Frau enttäuscht am Telefon
So sehr sich viele Mütter über den positiven Schwangerschaftstest und den Nachwuchs freuen, umso herausfordernder kann dann die Organisation rund um die Geburt werden. Je nachdem, in welcher Stadt sie leben, wird Eltern geraten, sich frühzeitig um einen Platz zur Entbindung in einer Klinik zu bemühen. 24vita.de sprach mit einer Mutter, die bereits in der 6. Woche der Frühschwangerschaft von Kliniken am Telefon abgewiesen wurde, weil sie zum errechneten Entbindungstermin keinen Platz ermöglichen konnten. „Das habe ich wirklich nicht erwartet“, berichtete die Mutter. (Symbolbild) © AntonioGuillem/Imago
Zwei Frauen mit Baby am Wickeltisch.
Ein für viele Mütter besonders frustrierender Umstand ist der Mangel an Hebammen in Deutschland, insbesondere zur Nachsorge. Ein Umstand, den sich so manche Eltern wohl anders vorgestellt haben. Die Hebamme kommt nach der Geburt zu den Müttern nach Hause – anfangs täglich, später wöchentlich – sieht nach dem Baby und ist auch wertvolle Ansprechpartnerin für die Mutter. Eltern brauchen speziell am Anfang Unterstützung und Kraft, um ihre nötige Kompetenz entwickeln zu können. Gerade nach der Geburt fühlen sich viele Mütter körperlich und mental erschöpft. Die Hebamme kontrolliert in der Nachsorge zudem die Rückbildung der Gebärmutter bei der betreffenden Mutter, den Wochenfluss sowie die Wundheilung von Riss- oder Operationswunden bei Dammriss oder -schnitt sowie Kaiserschnitt. Außerdem zeigt die Hebamme ihnen erste Übungen der Rückbildungsgymnastik. (Symbolbild) © Mareen Fischinger/Imago
Mutter sitzt erschöpft vor Babybett
Ein Baby bedeutet das pure Glück – so denken und hoffen es die meisten Eltern. Doch nicht immer stellt sich nach der Geburt das Gefühl von Glück und unendlicher Liebe ein. Bei etwa 710.000 Geburten pro Jahr in Deutschland zeigen über 70.000 Frauen und mit ihnen auch Männer pro Jahr Symptome einer postpartalen Depression. (Symbolbild) © Highwaystarz/LOOP IMAGES/Imago
Vater und Sohn schlafen im Sitzen
„Schlaf immer dann, wenn das Baby schläft.“ Ein gut gemeinter Rat von anderen Eltern, der nach der Geburt eine besondere Bedeutung einnehmen wird. Denn den schwierigen Umstand der veränderten Schlafqualität mit Schlafmangel haben sich viele Eltern definitiv anders vorgestellt. Nicht selten fühlen sich die übermüdeten Mütter und Väter dann über den ganzen Tag schläfrig-benommen, leiden unter Konzentrationsschwierigkeiten, Stimmungsschwankungen und sind stark reizbar. (Symbolbild) © Tanya Yatsenko/Imago
Mutter mit Baby erinnert sich
Zu dem neuen Leben mit Baby kommen auch jede Menge Aufgaben auf Mütter und Vater zu, angefangen vom neuen Tagesablauf, den oftmals kurzen Nächten, über das Stillen des Babys und Fläschchen geben bis hin zu Nachsorge- und Vorsorgeterminen. Gerade Mütter berichten, das Gefühl zu haben, an vieles denken zu müssen und machen dabei häufig die Erfahrung – auch wenn das Kind schon älter ist sowie, wenn Geschwister dazu kommen – Termine, Verabredungen oder Aufgaben zu vergessen. (Symbolbild) © Highwaystarz/LOOP IMAGES/Imago
Frau sortiert Wäsche in Waschmaschine
Mit dem Nachwuchs wird die Arbeit im Haushalt nicht weniger, ganz im Gegenteil. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, so viel Wäsche pro Woche zu waschen“, erzählt eine Mutter 24vita.de im Gespräch. Mit dem Baby in der Familie fehlt es dann schlicht und ergreifend häufig an Zeit und vielen Eltern auch an Energie, Aufgaben zu erledigen, selbst wenn Eltern das Kind einbinden oder sich zur Erholung zum schlafenden Baby dazu legen. (Symbolbild) © YAY Images/Imago
Frau in der Dusche
Eine ausgiebige Dusche oder ein schönes, warmes Bad. Was für Menschen ohne Kinder meist selbstverständlich ist, muss von Eltern mit Baby nicht selten zeitlich eingeplant werden. „Ich habe anfangs immer nur ganz schnell duschen können, weil unser Kleiner nicht gerne abgelegt werden wollte und dann viel weinte“, beschreibt eine Mutter im Gespräch mit 24vita.de. Zwar mag es für die einen absurd klingen, doch ist dieser Umstand für so manche Mutter oder manchen Vater nach der Geburt des Babys blanke Realität, die vorher nicht in ihrer Vorstellung vorkam. (Symbolbild) © Ihar Ulashchyk/Imago
Mutter wiegt Baby im Arm
Über neun Monate warten Eltern darauf, ihr Baby in den Armen halten zu können. „Jeden Tag war das für mich ein besonderer Moment, wenn ich unser kleines Baby im Arm hielt, sie wiegte, an ihr roch“, so die Mutter einer jetzt 4-Jährigen. Die meisten Eltern freuen sich auf ihre Elternzeit mit Kind, doch es gibt auch die Mütter und Väter, die sich in dieser ersten Zeit mit Kind dennoch alleine fühlen, da ihnen beispielsweise die Ansprache mit anderen fehlt. (Symbolbild) © Monkey Business 2/Imago
Eltern mit kleinem Baby
Mit der Geburt des Babys werden aus zwei Menschen eine Familie. Wo sich vorher die Frau und der Mann voll auf ihre Partnerschaft konzentrieren konnten, stehen nun in der Regel vorrangig die Bedürfnisse des Nachwuchses im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Baby verändert zwar eine Partnerschaft, kann sie aber auch bereichern. Mutter und Vater ist eine Rolle im Leben, in die Eltern zunächst hineinwachsen müssen, die auch mit Tücken, Hindernissen und verschiedenen Gefühlen verbunden ist, auch wenn es in der eigenen Vorstellung einfacher schien. (Symbolbild)  © Cavan Images/Imago

„Intensive parenting“: Erziehungstrend kann erschreckende Folgen haben

Die Sozialpsychologin Natalie Kerr schreibt, dass mittlerweile nicht nur wohlhabende Eltern diesen Ansatz verfolgen. Auch bei weniger reichen Müttern und Vätern wird das „intensive parenting“ immer beliebter. Dahinter steckt die Hoffnung, dass der Nachwuchs dadurch später erfolgreicher ist im Leben.

Doch ist dem wirklich so? Kerr zufolge wirkt sich die intensive Elternschaft nicht zwangsläufig positiv auf die Leistung von Kindern aus. „In einigen Fällen kann [sie] sogar schädlich sein“, warnt die Psychologin. Kinder, denen zu viel Druck zugemutet wird, können körperliche und psychische Beschwerden entwickeln.

Zu den Symptomen von zu viel Stress bei Kindern gehören laut AOK unter anderem Kopfschmerzen, Bauchweh, Lustlosigkeit und depressive Verstimmungen. Die Krankenkasse empfiehlt, Kindern mindestens zwei freie Nachmittage pro Woche zu lassen. An diesen Tagen sollten sie frei entscheiden können, mit welchen Aktivitäten sie den Nachmittag füllen wollen.

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Psychologin: „Eltern müssen Wohlbefinden priorisieren“

Doch auch Eltern profitieren davon, wenn sie die Erziehung ihrer Kinder weniger verbissen angehen. Viele Mütter und Väter wünschen sich, dass ihr Nachwuchs ein Überflieger in allen Bereichen wird: Das Kind soll gute Noten schreiben, regelmäßig Sport machen und am besten gleich mehrere Instrumente spielen. Wenn dem nicht so ist, haben Eltern das Gefühl, versagt zu haben.

Natalie Kerr rät allen gestressten Eltern, weniger perfektionistisch zu sein und besser auf sich selbst zu achten. „Viele von uns opfern unser soziales Leben den Kindern zuliebe“, erklärt sie. Dabei wirke sich ein gesundes soziales Leben positiv auf die eigene Gesundheit und das Stresslevel aus. „Etwas muss sich ändern. Als Eltern müssen wir unser Wohlbefinden priorisieren“, fordert die Psychologin. Auch ein offener Dialog über die Herausforderungen des Elternseins kann hilfreich sein.

 

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