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Machtwechsel in Taiwan: „Niemand weiß, wann China militärisch eingreift – auch die chinesische Regierung nicht“
VonSven Hauberg
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Taiwan bekommt einen neuen Präsidenten. Um China nicht zu verärgern, muss Lai Ching-te Pekings rote Linien beachten, sagt der Sinologe Gunter Schubert.
Mitte Januar wurde Lai Ching-te in Taiwans Präsidentenamt gewählt, am Montag (20. Mai) wird der 64-Jährige vereidigt. Der bisherige Vizepräsident folgt auf Tsai Ing-wen, eine Parteifreundin aus der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), die für einen eher chinakritischen Kurs steht. Was von Lai zu erwarten ist und wie Peking auf den neuen Präsidenten reagieren könnte, erklärt der Sinologe und Taiwan-Experte Gunter Schubert.
Herr Schubert, am Montag wird Lai Ching-te in Taiwan das Präsidentenamt übernehmen. Welche Reaktion von Peking erwarten Sie?
China bezeichnet Lai als „gefährlichen Separatisten“.
China hat seit den späten 1990er-Jahren jeden taiwanischen Präsidenten als Separatisten bezeichnet. Das ist nichts Neues.
Was sind für China die roten Linien, die Lai nicht überschreiten darf?
Lai darf Chinas Souveränitätsanspuch nicht offensiv zurückweisen oder gar von der Souveränität „Taiwans“ sprechen. Die Souveränität der „Republik China“ (Taiwans offizieller Name, d. Red.) wird er hingegen sicherlich betonen, und das ist für Peking gerade noch akzeptabel.
Zur Person
Gunter Schubert ist Professor am Asien-Orient-Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie Gründer und Direktor des dort angesiedelten European Research Center on Contemporary Taiwan. Von ihm erschien zuletzt im Beck-Verlag das Buch „Kleine Geschichte Taiwans“.
„Peking muss entscheiden, ob es eine gewisse Art von Normalisierung mit Taiwan will“
Wie wird er das Verhältnis zu den USA zukünftig gestalten?
In Taiwan sind viele Amerikaner als Militärberater oder Geheimdienstkoordinatoren aktiv, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes zu stärken. Das ist eine Provokation für China. Aber Peking weiß auch, dass sie dagegen nichts tun können. Für Peking ist entscheidend, dass die chinesischen Ansprüche auf Taiwan nicht offen infrage gestellt werden.
Was erwartet Peking von Lai?
Ich glaube, nicht viel. Zwar hat Lai zuletzt häufig gesagt, dass er gesprächsbereit sei und dass er den zivilen Austausch zwischen China und Taiwan wieder ankurbeln wolle. Damit hat er den Ball nach Peking zurückgespielt. Peking muss entscheiden, ob es eine gewisse Art von Normalisierung mit Taiwan will. Das Problem ist, dass China weiterhin daran festhält, dass sich die taiwanische Regierung öffentlich zum sogenannten „Konsens von 1992“ bekennt.
Dieser Konsens wurde zwischen Vertretern Chinas und der damaligen taiwanischen Regierungspartei KMT geschlossen, die heute in der Opposition ist. Er besagt, dass es nur ein China gibt, beide Seiten aber unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie dieses eine China aussieht.
Lais DPP erkennt diesen Konsens nicht an und wird das auch in Zukunft nicht tun. Für Peking ist das aber Gesprächsgrundlage, weil der Konsens eine explizite Absage an eine Unabhängigkeit Taiwans beinhaltet. Hinzu kommt, dass Xi Jinping den Spielraum, wie dieser Konsens zu interpretieren ist, stark eingeschränkt. Wer für den Konsens ist, so Xi, ist für das Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“. Damit will er das Hongkonger Modell vollumfänglich auf Taiwan übertragen.
Ja, und deswegen kommt dieses Modell für die Menschen in Taiwan auch nicht infrage. Es gibt einen übergreifenden Konsens, quer durch die Gesellschaft und alle Parteien – mit der Ausnahme einer ganz kleinen Minderheit – dass niemand sich der Souveränität der Volksrepublik China unterwerfen will. Beide Seiten wissen das und versuchen deshalb, diesen Konflikt so weit wie möglich auf kleiner Flamme zu kochen. Der Status quo wird also bestehen bleiben.
Taiwan bekommt einen neuen Präsidenten: „China hat eine Gesamtstrategie“
Peking könnte versuchen, den Status quo militärisch zu verändern.
Es gibt Experten, die gerne mit Jahreszahlen um sich werfen und Voraussagen treffen, wann China angeblich Taiwan angreift. Da heißt es dann, 2027 ist es so weit oder 2035 oder 2049. Aber das sind bloße Spekulationen. Niemand weiß, wann und ob China tatsächlich militärisch eingreifen will – womöglich weiß es die chinesische Regierung selbst nicht. Allerdings hat Peking eine Gesamtstrategie: Es will die militärische Modernisierung genauso wie die gesamtwirtschaftliche und die gesellschaftliche Modernisierung weiter voranzutreiben. So will China autonomer werden, um im Fall der Fälle handlungsfähig zu sein. Aber mehr als das wissen wir nicht.
Lai wurde nur mit rund 40 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt; im Parlament, dem Legislativ-Yuan, hat seine DPP keine Mehrheit. Ist er überhaupt handlungsfähig?
Zwischen 2000 und 2008 sah sich der damalige Präsident Chen Shui-bian schon einmal mit einem Parlament konfrontiert, das von der Opposition kontrolliert wurde. Das war eine politische Katastrophe für Taiwan, weil der Legislativ-Yuan über Jahre nahezu paralysiert war. Das droht heute wieder. Dabei steht Taiwan vor gewaltigen Problemen, vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sie sind meines Erachtens derzeit wichtiger als der Konflikt mit China, und es sind Bereiche, in denen Lai tatsächlich etwas bewegen könnte. Taiwan hat es in den vergangenen Jahren versäumt, viele innergesellschaftliche Probleme anzugehen, weil man zu sehr auf China fokussiert war. Das Problem für Lai ist, dass in der taiwanischen Politik eine Nullsummen-Mentalität herrscht. Keine der Parteien will Kompromisse eingehen, weil Taiwan bisher keine politische Kompromisskultur besitzt. Dafür zu arbeiten, ist seine größte und gleichzeitig schwierigste Aufgabe.
Kann Lai das Land einen?
Lai hat bisher kein klares sachpolitisches Profil, wir wissen kaum, wofür er steht. Er ist erst 2020 so richtig in Erscheinung getreten, als parteiinterner Herausforderer von Präsidentin Tsai Ing-wen, die ihn dann schließlich zu ihrem Vize gemacht hat. Aber auch als Vizepräsident hat er kaum ein Profil entwickelt. Was für ein Politiker er ist, werden wir erst jetzt sehen. Ob er bereit ist, Kompromisse zu schließen und auch gegen Widerstände aus der eigenen Partei auf die Opposition zugeht – das ist völlig offen.