Der befestigte Strand von Kinmen, eine vorgelagerte Insel – und dahinter die chinesische Stadt Xiamen.
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Der befestigte Strand von Kinmen, eine vorgelagerte Insel – und dahinter die chinesische Stadt Xiamen.

Reportage aus Kinmen

An Taiwans Frontlinie: Wo die Bedrohung durch China zum Greifen nah ist

  • Sven Hauberg
    VonSven Hauberg
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Wenn Taiwan am Samstag einen neuen Präsidenten wählt, wird auch über das Verhältnis zu China abgestimmt. Ein Besuch auf der Insel Kinmen, wo sich beide Seiten direkt gegenüberstehen.

Kinmen – „Da drüben, das ist China“, sagt Frau Seng und zeigt hinaus aufs Meer. „Wobei“, schiebt sie lachend hinterher: „Das hier ist ja ebenfalls China.“ Es ist ja auch seltsam. Denn „da drüben“ – da liegt Xiamen, eine Millionenstadt, die zur chinesischen Provinz Fujian gehört. Frau Seng aber, 76 Jahre alt, steht am Strand der Insel Kinmen, Taiwans letztem Außenposten. Nur drei Kilometer sind es bis rüber aufs chinesische Festland, von Kinmen aus kann man die Hochhausfassaden von Xiamen mit bloßem Auge erkennen. Kinmen ist ein Kuriosum: nur einen Steinwurf von China entfernt, aber eine gute Flugstunde weg von Taiwans Hauptstadt Taipeh. China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz, die notfalls mit Gewalt mit der kommunistischen Volksrepublik vereint werden soll.

Die Insel zählt gut 120.000 Einwohner, es ist ein entspanntes Leben, weit weg vom Trubel der taiwanischen Metropolen. Die Menschen hier leben vor allem vom Tourismus. Doch so friedlich wie heute war es auf Kinmen nicht immer.

Noch 1958, knapp zehn Jahre nach Ende des chinesischen Bürgerkriegs und dem Rückzug der Nationalisten vom chinesischen Festland nach Taiwan, lieferten sich die Soldaten beider Länder hier erbitterte Gefechte. Im Sommer jenen Jahres schoss Mao Zedongs China Hunderttausende Granaten in Richtung Kinmen, erst nach 44 Tagen hatte der Spuk ein vorläufiges Ende. „Zu Lande, zu Wasser und in der Luft“ habe Taiwan „einen glänzenden Sieg errungen“, verkündet noch heute eine Gedenktafel im Schrein der Märtyrer in Taipeh. Doch die Bombardierungen gingen bald wieder los, wenn auch nach einem bizarren Zeitplan: An ungeraden Kalendertagen schoss China Granaten auf Kinmen, an geraden Tagen feuerte Taiwans Militär zurück. So ging das 20 Jahre lang, bis 1979 endlich Ruhe einkehrte auf der kleinen Insel.

„China ist näher als Taiwan“

Geblieben sind alte Panzer, die in Wiesen und Feldern vor sich hin rosten, in Berge gehauene Verteidigungstunnels, die heute Touristenhorden anlocken, und Hunderte Metallbarrieren, die vor Jahren ins Meer gerammt wurden und feindliche Schiffe aufhalten sollen. Sie sind stille Zeugen des Krieges, mehr Fotomotiv denn Abschreckung. Noch immer in Betrieb hingegen sind riesige Lautsprecheranlagen, die gegen Wind und Brandung ankämpfen und ihre auf Band aufgezeichneten Botschaften in Richtung China tragen sollen: „Ich hoffe, ihr da drüben auf dem Festland könnt eines Tages dieselben Freiheiten genießen wie wir“, säuselt eine sympathische Frauenstimme, dann singt Teresa Teng, die in ganz Asien verehrte Grande Dame des Taiwan-Pop, einen ihrer unsterblichen Schlager.

Viele Menschen, die auf Kinmen leben, haben ihre Wurzeln am anderen Ufer. „Wir stammen fast alle aus Fujian“, sagt Tsai Ge, der in einem Örtchen an der Südwestspitze von Kinmen ein kleines Hotel betreibt. Der 60-Jährige sitzt vor seinem Haus, einem 100 Jahre alten Gebäude mit mehreren Innenhöfen und aufwendig verzierten Türen. „Wir sprechen den gleichen Dialekt wie die Menschen dort, wir haben die gleiche Kultur und die gleichen Bräuche. Und wir trinken sogar dasselbe Wasser wie sie“, sagt er. Tatsächlich bezieht Kinmen einen großen Teil seines Trinkwassers über eine Rohrleitung aus China.

Tsai Ge hofft, dass das Verhältnis zwischen Taiwan und China wieder besser wird.

In Taitung, im Südosten von Taiwans Hauptinsel, betreibt Tsai ein Restaurant, um das sich die meiste Zeit aber seine beiden Söhne kümmern. Er selber fliege nur selten rüber nach Taiwan. „China ist näher“, sagt er und meint damit nicht nur die geografische Distanz. Nur eine gute halbe Stunde braucht die Fähre, die Kinmen mit Xiamen verbindet, seit 2001 ist sie in Betrieb, trotz der Spannungen zwischen Peking und Taipeh blieb das Schiff nur während der Corona-Pandemie im Hafen. Die Fahrt mit der Fähre geht schneller und ist viel billiger als der Flug nach Taipeh, trotz subventionierter Flugtickets für die Inselbewohner. „Was soll ich in Taipeh?“, fragt Tsai.

„Die DPP zieht Taiwan ins Verderben“

Wenn die Taiwaner am kommenden Samstag einen neuen Präsidenten wählen, will er der eher China-freundlichen Kuomintang (KMT) seine Stimme geben. Die KMT regierte einst drüben auf dem Festland, bevor sie sich nach der Niederlage gegen Mao Zedongs Kommunisten 1949 nach Taiwan zurückzog, wo Präsident Chiang Kai-shek eine Militärdiktatur errichtete. Erst seit Mitte der 1990-er Jahre ist Taiwan eine Demokratie, die Abstimmung vom Samstag ist die achte freie Präsidentschaftswahl, die das Land erlebt. „Die DPP zieht Taiwan ins Verderben“, sagt Tsai. Er meint die Demokratische Fortschrittspartei von Präsidentin Tsai Ing-wen, die den Inselstaat seit 2016 regiert. Seitdem haben sich die Beziehungen zur Regierung in Peking dramatisch verschlechtert. Für China sind Tsai und ihr Vize Lai Ching-te „Separatisten“. Lai will nun Präsident werden, Umfragen rechnen ihm gute Chancen aus.

KMT-Kandidat Hou Yu-ih liegt in den Umfragen ein paar Prozentpunkte hinter Lai. „Wenn Hou Präsident wird, dann wird auch das Verhältnis zu China besser“, sagt Inselbewohner Tsai. „Dann kommen endlich auch wieder mehr Besucher vom Festland nach Kinmen, dann läuft die Wirtschaft besser.“ So wie er denken viele hier: Man fühlt sich China nahe und von der Regierung in Taipeh vergessen. Präsidentschaftskandidat Hou weiß das, er verspricht, die Beziehungen zu China in ruhigere Fahrwasser zu bringen. Unter anderem will er ein Handelsabkommen mit Peking aushandeln.

China und Taiwan: Darum geht es in dem Konflikt

Taiwans F-16-Kampfjet (links) überwacht einen der beiden chinesischen H-6-Bomber, die den Bashi-Kanal südlich von Taiwan und die Miyako-Straße in der Nähe der japanischen Insel Okinawa überflogen.
Seit Jahrzehnten schon schwelt der Taiwan-Konflikt. Noch bleibt es bei Provokationen der Volksrepublik China; eines Tages aber könnte Peking Ernst machen und in Taiwan einmarschieren. Denn die chinesische Regierung hält die demokratisch regierte Insel für eine „abtrünnige Provinz“ und droht mit einer gewaltsamen „Wiedervereinigung“. Die Hintergründe des Konflikts reichen zurück bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. © Taiwan Ministry of Defence/AFP
Chinas letzter Kaiser Puyi
Im Jahr 1911 zerbricht das viele Jahrtausende alte chinesische Kaiserreich. Der letzte Kaiser Puyi (Bild) wird abgesetzt, die Xinhai-Revolution verändert China für immer. Doch der Weg in die Moderne ist steinig. Die Jahre nach der Republikgründung waren von Wirren und internen Konflikten geprägt.  © Imago
Porträt von Sun Yatsen auf dem Tiananmen-Platz in Peking
Im Jahr 1912 gründet Sun Yat-sen (Bild) die Republik China. Es folgen Jahre des Konflikts. 1921 gründeten Aktivisten in Shanghai die Kommunistische Partei, die zum erbitterten Gegner der Nationalisten (Guomindang) Suns wird. Unter seinem Nachfolger Chiang Kai-shek kommt es zum Bürgerkrieg mit den Kommunisten. Erst der Einmarsch Japans in China ab 1937 setzt den Kämpfen ein vorübergehendes Ende. © Imago
Mao Zedong ruft die Volksrepublik China aus
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Kapitulation Japans flammt der Bürgerkrieg wieder auf. Aus diesem gehen 1949 die Kommunisten als Sieger hervor. Mao Zedong ruft am 1. Oktober in Peking die Volksrepublik China aus (Bild).  © Imago Images
Chiang Kai-shek
Verlierer des Bürgerkriegs sind die Nationalisten um General Chiang Kai-shek (Bild). Sie fliehen 1949 auf die Insel Taiwan. Diese war von 1895 bis 1945 japanische Kolonie und nach der Niederlage der Japaner an China zurückgegeben worden. Auf Taiwan lebt seitdem die 1912 gegründete Republik China weiter. Viele Jahre lang träumt Chiang davon, das kommunistisch regierte Festland zurückzuerobern – während er zu Hause in Taiwan mit eiserner Hand als Diktator regiert. © Imago
Richard Nixon und Zhou Enlai 1972
Nach 1949 gibt es zwei Chinas: die 1949 gegründete Volksrepublik China und die Republik China auf Taiwan, die 1912 gegründet wurde. Über Jahre gilt die taiwanische Regierung als legitime Vertreterin Chinas. Doch in den 70er-Jahren wenden sich immer mehr Staaten von Taiwan ab und erkennen die kommunistische Volksrepublik offiziell an. 1972 verliert Taiwan auch seinen Sitz in den Vereinten Nationen, und Peking übernimmt. Auch die USA brechen mit Taiwan und erkennen 1979 – sieben Jahre nach Richard Nixons legendärem Peking-Besuch (Bild) – die Regierung in Peking an. Gleichzeitig verpflichten sie sich, Taiwan mit Waffenlieferungen zu unterstützen. © Imago/UIG
Chiang Ching-Kuo in Taipeh
Im Jahr 1975 stirbt Taiwans Dikator Chiang Kai-shek. Neuer Präsident wird drei Jahre später dessen Sohn Chiang Ching-kuo (Bild). Dieser öffnet Taiwan zur Welt und beginnt mit demokratischen Reformen. © imago stock&people
Chip made in Taiwan
Ab den 80er-Jahren erlebt Taiwan ein Wirtschaftswunder: „Made in Taiwan“ wird weltweit zum Inbegriff für günstige Waren aus Fernost. Im Laufe der Jahre wandelt sich das Land vom Produzenten billiger Produkte wie Plastikspielzeug zur Hightech-Nation. Heute hat in Taiwan einer der wichtigsten Halbleiter-Hersteller der Welt - das Unternehmen TSMC ist Weltmarktführer. © Torsten Becker/Imago
Tsai Ing-wen
Taiwan gilt heute als eines der gesellschaftlich liberalsten und demokratischsten Länder der Welt. In Demokratie-Ranglisten landet die Insel mit ihren knapp 24 Millionen Einwohnern immer wieder auf den vordersten Plätzen. Als bislang einziges Land in Asien führte Taiwan 2019 sogar die Ehe für alle ein. Regiert wurde das Land von 2016 bis 2024 von Präsidentin Tsai Ing-wen (Bild) von der Demokratischen Fortschrittspartei. Ihr folgte im Mai 2024 ihr Parteifreund Lai Ching-te. © Sam Yeh/AFP
Xi Jinping
Obwohl Taiwan nie Teil der Volksrepublik China war, will Staats- und Parteichef Xi Jinping (Bild) die Insel gewaltsam eingliedern. Seit Jahrzehnten droht die kommunistische Führung mit der Anwendung von Gewalt. Die meisten Staaten der Welt – auch Deutschland und die USA – sehen Taiwan zwar als einen Teil von China an – betonen aber, dass eine „Wiedervereinigung“ nur friedlich vonstattengehen dürfe. Danach sieht es derzeit allerdings nicht aus. Die kommunistiche Diktatur Chinas ist für die meisten Taiwaner nicht attraktiv. © Dale de la Rey/AFP
Militärübung in Kaohsiung
Ob und wann China Ernst macht und in Taiwan einmarschiert, ist völlig offen. Es gibt Analysten, die mit einer Invasion bereits in den nächsten Jahren rechnen – etwa 2027, wenn sich die Gründung der Volksbefreiungsarmee zum 100. Mal jährt. Auch das Jahr 2049 – dann wird die Volksrepublik China 100 Jahre alt – wird genannt. Entscheidend dürfte sein, wie sicher sich China ist, einen Krieg auch zu gewinnen. Zahlenmäßig ist Pekings Armee der Volksrepublik den taiwanischen Streitkräften überlegen. Die Taiwaner sind dennoch gut vorbereitet. Jedes Jahr finden große Militärübungen statt; die Bevölkerung trainiert den Ernstfall, und die USA liefern Hightech-Waffen.  © Sam Yeh/AFP
Xi Jinping auf einem chinesischen Kriegsschiff
Analysten halten es für ebenso möglich, dass China zunächst nicht zu einer Invasion Taiwans blasen wird, sondern mit gezielten Nadelstichen versuchen könnte, den Kampfgeist der Taiwaner zu schwächen. So könnte Xi Jinping (Bild) eine Seeblockade anordnen, um die Insel Taiwan vom Rest der Welt abzuschneiden. Auch ein massiver Cyberangriff wird für möglich gehalten.  © Li Gang/Xinhua/Imago
Protest in Taiwan
Auch wenn die Volksrepublik weiterhin auf eine friedliche „Wiedervereinigung“ mit Taiwan setzt: Danach sieht es derzeit nicht aus. Denn die meisten Taiwaner fühlen sich längst nicht mehr als Chinesen, sondern eben als Taiwaner. Für sie ist es eine Horrorvorstellung, Teil der kommunistischen Volksrepublik zu werden und ihre demokratischen Traditionen und Freiheiten opfern zu müssen. Vor allem das chinesische Vorgehen gegen die Demokratiebewegung in Hongkong hat ihnen gezeigt, was passiert, wenn die Kommunistische Partei den Menschen ihre Freiheiten nimmt. © Ritchie B. Tongo/EPA/dpa

China und Taiwan: „Wiedervereinigung ist historische Mission“

Dass die KMT in Kinmen so beliebt sei, liege nicht nur an der geografischen Lage der Insel, sagt der Politikwissenschaftler Chen Fang-yu von der Soochow-Universität in Taipeh. „In vielen ländlichen Gebieten ist die Partei stark, weil sie auf lokaler Ebene seit Jahrzehnten gut vernetzt und tief verwurzelt ist.“ Deswegen falle es der KMT leichter, Menschen zu mobilisieren. Auch fühlten sich viele Menschen auf dem Land abgehängt. „Die Gewinner der Globalisierung findet man vor allem in Norden von Taiwan, wo die Hightech-Industrie sitzt“, sagt Chen. Diese Menschen würden eher die DPP wählen, die erst Mitte der 80-er gegründete Partei von Noch-Präsidentin Tsai Ing-wen. Im verschlafenen Kinmen hingegen spürt man wenig davon, dass Taiwan in den letzten Jahrzehnten zu einem der reichsten Länder der Welt aufgestiegen ist.

China im Blick: Nur gut drei Kilometer liegen zwischen Kinmen und dem Festland.

„Wir alle sind Chinesen“, sagt Tsai Ge, der Hotelbesitzer. Eines Tages, so hofft er, werden China und Taiwan wiedervereinigt. „Nicht heute, aber in 50 Jahren vielleicht.“ Fraglich ist nur, ob China so lange warten will: Staats- und Parteichef Xi Jinping hat einen Anschluss Taiwans längst zur „historischen Mission“ seiner Kommunistischen Partei ausgerufen. „Wir werden uns weiterhin mit größter Aufrichtigkeit und größter Anstrengung um die friedliche Wiedervereinigung bemühen, aber wir werden niemals versprechen, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten“, droht er.

Kinmen: Schlüsselrolle bei einer Eroberung Taiwans?

Sollte China tatsächlich Ernst machen und Taiwan angreifen, könnte Kinmen nach Ansicht von Militärstrategen eine Schlüsselrolle zukommen. Vor allem US-Experten glauben, dass China zunächst die vor der eigenen Küste gelegene Insel überfallen könnte, bevor es nach dem restlichen Taiwan greift. Ein perfider Plan: Die USA, die selbsterklärte Schutzmacht der Taiwaner, würden für das kleine Kinmen wohl kaum einen Großkonflikt mit China riskieren. Es wäre Taiwans Ukraine-Moment: Als Russland 2014 die Krim überfiel, reagierte der Westen noch zurückhaltend; acht Jahre später ließ Putin seine Truppen auch in den Rest des Nachbarlandes einmarschieren.

Sheu Jyh-Shyang, Militärexperte am Institute for National Defense and Security Research, glaubt hingegen, dass Kinmen keine große Rolle mehr spielt in Chinas Angriffsplänen. „Die Volksbefreiungsarmee kann Taiwan direkt angreifen, wenn sie das will“, sagt Sheu bei einem Treffen in dem gut gesicherten Institut in Zentrum von Taipeh. „China braucht Kinmen nicht mehr als Zwischenstation.“ Und wenn doch, dann würde die Insel wohl schnell fallen: „Kinmen ist schwer zu verteidigen und ziemlich abgelegen.“ Nur noch ein paar Tausend Soldaten seien hier stationiert; in Chinas Volksbefreiungsarmee hingegen dienen zwei Millionen Menschen.

Riesige Lautsprecher verbreiten von Kinmens Küste aus Propagandabotschaften in Richtung China.

Huang Yi glaubt ebenfalls, dass seine Heimatinsel keine Chance hätte, sollten die Chinesen angreifen. „Die Amerikaner“, sagt der 72-Jährige, „würden uns jedenfalls nicht zur Hilfe kommen.“ Zwar hat US-Präsident Joe Biden mehrfach erklärt, sein Land würde eingreifen, wenn der Konflikt mit China eskaliert. Huang aber bezweifelt das: „Die Amerikaner wollen uns Waffen verkaufen, alles andere interessiert sie nicht.“ Woher er das weiß? Der Rentner, der jahrzehntelang in Kinmens berühmter Kaoliang-Destillerie gearbeitet hat, zückt sein Smartphone und zeigt Nachrichten, die ihm Freunde über die Messenger-App Line geschickt haben. Die USA würden Taiwan ebenso im Stich lassen wie Afghanistan, liest man dort etwa.

Nur wenige Taiwaner wollen die Vereinigung mit der Volksrepublik

Meldungen wie diese verbreiten sich in den Wochen und Monaten vor der Präsidentschaftswahl rasend schnell in Taiwans sozialen Medien. Offenbar mit Erfolg. Einer Umfrage vom vergangenen Jahr zufolge halten nur noch 34 Prozent der Taiwaner die USA für einen vertrauenswürdigen Partner, vor drei Jahren waren es noch 45 Prozent. Jan Jyh-horng, stellvertretender Minister von Taiwans Rat für Festlandangelegenheiten, nennt antiamerikanische und prochinesische Meldungen ein „Virus“, das von China aus verbreitet werde. Bei einem Treffen in seiner Behörde sagt Jan aber auch: „Es ist unmöglich, den chinesischen Einfluss vollständig abzuwehren. Dafür sind wir kulturell und wirtschaftlich zu eng miteinander verbunden“. Außerdem würden sich Desinformation und Falschmeldungen vor allem über private Chatgruppen verbreiten. „Und darauf haben wir keinen Zugriff.“

Auf Kinmen mag manch einer den Tag herbeisehnen, an dem die Insel wieder ein Teil von China wird. Im Rest des Landes aber denken nur wenige so wie Hotelbesitzer Tsai oder Rentner Huang. Nur knapp sieben Prozent der Taiwaner wünschen sich laut einer Umfrage vom vergangenen Jahr die Vereinigung mit der Volksrepublik, die allermeisten wollen den fragilen Status quo beibehalten: keine formelle Unabhängigkeit, aber auch kein Anschluss an China. Peking aber erhöht den Druck. Täglich dringen Kampfjets in Taiwans Luftverteidigungszone ein und überqueren Kriegsschiffe die inoffizielle Grenze zwischen beiden Ländern. Das soll die Menschen einschüchtern, sie zermürben.

In Kinmen hingegen versucht es Peking mit einer Charmeoffensive. Mitte September legte Chinas Regierung einen Plan vor, der Taiwan und die chinesische Provinz Fujian enger zusammenwachsen lassen soll. Unter anderem sollen Gas-, Strom- und Verkehrsverbindungen zwischen dem Festland und Kinmen ausgebaut werden, hieß es damals aus Peking. Frau Huang, die am Strand von Kinmen ans andere Ufer blickt, hält das für eine gute Idee: „Das käme Menschen auf beiden Seiten der Taiwanstraße zugute“, sagt sie. Manch einer auf Kinmen träumt gar von einer Brücke rüber aufs Festland. Zum Shoppen im gegenüberliegenden Xiamen könnte man dann mit dem eigenen Auto fahren, die Fähre bräuchte es nicht mehr. Nur: Über so eine Brücke könnten eines Tages auch Soldaten marschieren. Dann wäre es vorbei mit der beschaulichen Ruhe auf Taiwans abgelegenem Außenposten.