
VonSven Hauberg
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Wenn die Taiwaner Mitte Januar einen neuen Präsidenten wählen, geht es auch um das Verhältnis zu Peking. Sollte der Kandidat der Regierungspartei gewinnen, erwartet ein Experte „Muskelspiele“ der Chinesen.
Am 13. Januar wählen die Taiwaner einen neuen Präsidenten, Amtsinhaberin Tsai Ing-wen darf nach zwei Amtszeiten nicht erneut antreten. Als Favorit geht der derzeitige Vizepräsident Lai Ching-te von der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) ins Rennen. Lai ist für China ein „Separatist“, der Taiwan in die Unabhängigkeit führen will – Peking betrachtet die demokratisch regierte Inselrepublik als Teil des eigenen Staatsgebiets. Umfragen zufolge liefert sich Lai ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Hou Yu-ih, dem Kandidaten der traditionell China-freundlichen Kuomintang (KMT). Nur geringe Chancen werden hingegen Ko Wen-je von der erst 2019 gegründeten Taiwanischen Volkspartei eingeräumt. Im Interview erklärt der Politikwissenschaftler Chen Yu-fang, was am 13. Januar auf dem Spiel steht. Chen lehrt und forscht an der Soochow-Universität in Taiwans Hauptstadt Taipeh.
Die Präsidentschaftswahl in Taiwan wird immer wieder als Abstimmung über Krieg und Frieden bezeichnet. Ist das nicht etwas sehr dramatisch?
Das ist eine Erzählung, die die Opposition verbreitet. Ihre Logik geht so: Die regierende DPP will die Unabhängigkeit Taiwans von China,
was Peking dazu bringen wird, Taiwan anzugreifen. Schon bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr konnte die Opposition mit dieser Erzählung punkten. Als Beweis für ihre Behauptung diente ihr die Tatsache, dass die Spannungen zwischen China und Taiwan zugenommen haben. Aber ich bin gegen diese Logik.
Warum?
Für China ist jeder Plan, der nicht auf eine Wiedervereinigung hinausläuft, gleichbedeutend mit Unabhängigkeit. Wenn also die Oppositionsparteien den Status quo beibehalten wollen, dann bedeutete das für Peking ebenfalls, dass sie eigentlich die Unabhängigkeit anstreben.
„China hat mehrfach erklärt, dass es Taiwan angreifen würde, wenn sich das Land für unabhängig erklärt“
Lai Ching-te, der Kandidat der DPP und derzeitige Vizepräsident, hat zuletzt gesagt,
dass sich Taiwan gar nicht für unabhängig erklären müsse, weil es schon unabhängig sei. Ist das nicht Wortklauberei?
Die chinesische Regierung hat mehrfach erklärt, dass sie Taiwan angreifen würde, wenn sich das Land formell für unabhängig erklären sollte. Ansonsten aber sagt China nicht wirklich, was sie mit „Unabhängigkeit“ eigentlich meinen. China will eine Atmosphäre der Angst schaffen, in der die Menschen befürchten, dass eine DPP-Regierung alle in einen Krieg stürzen könnte.
Derzeit führt Lai in allen Umfragen. Wie würde China reagieren, sollte er die Wahl tatsächlich gewinnen?
Zunächst mit neuen Handelssanktionen gegen Taiwan und
mit vermehrten sogenannten „Grauzonen-Aktivitäten“ – China würde also noch mehr Kampfjets und Kriegsschiffe in die Nähe von Taiwan schicken als bisher. Möglicherweise lässt Xi Jinping auch einige Militärmanöver durchführen, um die Muskeln spielen zu lassen. Langfristig aber wird sich nicht viel ändern. Schon unter der jetzigen Präsidentin Tsai Ing-wen hat China ja viele Kontakte mit Taiwan abgebrochen: Der Austausch von Studierenden wurde ausgesetzt, Touristen durften nicht mehr nach China einreisen, viele taiwanische Produkte können nicht mehr nach China eingeführt werden.
Und wenn die oppositionelle KMT gewinnt?
Dann werden die Spannungen zwischen China und Taiwan abnehmen, allerdings nur kurzfristig. Auf lange Sicht wird Peking die KMT zu Verhandlungen über
eine Vereinigung mit China drängen.
Die KMT gilt traditionell als China-freundlich.
Die KMT hat zwei Gesichter. Für ein internationales Publikum behauptet sie, gleichzeitig pro-China und pro-USA zu sein. Sie sagt, dass es wichtig sei, die Verteidigungsfähigkeiten auszubauen, gute Beziehungen zu unseren Verbündeten zu unterhalten – und gleichzeitig China nicht zu verärgern. Fürs heimische Publikum hingegen hat sie eine ganz andere Botschaft. Da heißt es dann, dass Verteidigung nicht so wichtig sei wie gute Beziehungen zu Peking. Das gilt auch für Hou Yu-ih, den Präsidentschaftskandidaten der KMT. Er sagt, dass er Taiwan für den chinesischen Markt, für chinesisches Arbeitskräfte und für chinesisches Kapital öffnen will.
„Viele junge Menschen bezeichnen sich ganz selbstverständlich als Taiwaner“
Auch Ko Wen-je, der dritte Präsidentschaftskandidat, spricht sich für eine Annäherung an China aus. Gleichzeitig ist er vor allem bei jungen, eigentlich China-kritischen Wählern beliebt. Wie passt das zusammen?
Das stimmt, auch Ko ist sehr pro-chinesisch. Er will zum Beispiel das Handelsabkommen mit China, das vor rund zehn Jahren von der Zivilgesellschaft verhindert wurde, wiederbeleben. Ich glaube, der jüngeren Generation ist gar nicht bewusst, was Ko wirklich über China denkt. Weil er nie sagt, was er wirklich will, sondern immer sehr vage bleibt. Im Prinzip ist Ko eine taiwanische Version von
Donald Trump oder Boris Johnson – er ist ein Populist. Außerdem ist vielen jungen Wählern die China-Frage gar nicht so wichtig.
Wieso nicht?
Viele junge Menschen bezeichnen sich ganz selbstverständlich als Taiwaner. Es ist für sie völlig klar, dass Taiwan unabhängig von China sein muss. Debatten über die taiwanische Identität interessieren sie also nicht, und deswegen ist das für sie auch kein wichtiges Wahlkampfthema. Was die jungen Menschen stattdessen umtreibt, sind hohe Mieten, geringe Löhne und die zunehmende Ungleichheit in Taiwan.
China verbreitet derzeit gezielt Falschnachrichten in den sozialen Medien in Taiwan, außerdem versucht es, die Menschen einzuschüchtern, indem es regelmäßig Kampfjets und Kriegsschiffe in die Nähe von Taiwan schickt. Geht diese Taktik auf?
Studien besagen, dass das vor allem bei Menschen funktioniert, die sich nicht mit politischen Parteien identifizieren und sich kaum für Politik interessieren. Wenn China nur fünf bis zehn Prozent der Wähler beeinflussen kann, dann kann das Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben. Also ja: Chinas Taktik geht auf.