IPPEN.MEDIA-Interview

„Das ist unwürdig“: SPD-Chef zeigt sich von FDP enttäuscht – und fordert eine Entschuldigung

  • Peter Sieben
    VonPeter Sieben
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Er sei menschlich enttäuscht von FDP-Mitgliedern, sagt SPD-Chef Lars Klingbeil im Interview. Außerdem spricht er über den Wahlkampf – und ob er Boris Pistorius für den besseren Kanzlerkandidaten hält.

Essen – Lars Klingbeil ist vor den Neuwahlen voll im Wahlkampfmodus. Seit Tagen fährt er durch Deutschland: Mainz, Hamburg und jetzt das Ruhrgebiet in NRW. Am Samstag war er zu Gast im Sanaa-Gebäude nahe dem Weltkulturerbe Zeche Zollverein in Essen. Der weiße Kubus-Bau hat nach dem Ampel-Aus einen gewissen Symbolcharakter: Das beeindruckende Gebilde galt einst als neuartig und hochmodern – war nach ein paar Jahren aber schon baufällig.

FDP um Christian Lindner soll Ampel-Aus inszeniert haben – Klingbeil: „Ich bin menschlich enttäuscht“

Kurz vor dem Termin in Essen wurde bekannt: Die FDP um Christian Lindner hatte das Ampel-Aus offenbar schon vor Wochen geplant. „Jetzt geht es aber um einen Neustart“, sagt Lars Klingbeil zur Begrüßung. Im Interview mit IPPEN.MEDIA spricht er darüber, wie er diesen Neustart umsetzen möchte.

Die FDP-Spitze um Christian Lindner soll den Ampel-Bruch lange geplant und absichtlich provoziert haben. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie davon erfahren haben?
Ich hab das nicht glauben können. Auch wenn es durchaus Hinweise gab.
Welche?
In den Tagen vor dem Koalitionsausschuss haben sich die Anzeichen verdichtet. Mir hat jemand erzählt, dass die FDP wohl vorhatte, am Freitag die Koalition platzen zu lassen, als Olaf Scholz auf dem europäischen Gipfel in Budapest war. Das hat sich durch die Medien-Recherchen jetzt bestätigt. Aber ich habe nicht glauben wollen, dass jemand Politik so inszenieren würde. Dass eine so große Gruppe von FDP-Leuten offenbar derart spielerisch mit ihrer Verantwortung für dieses Land umgeht. Im Koalitionsausschuss aber hab ich dann gemerkt: Die wollen raus, die forcieren das und sind dabei sehr hart.
SPD-Chef Lars Klingbeil mit IPPEN.MEDIA-Redakteur Peter Sieben.
Sind Sie enttäuscht?
Mich bewegt das und ja, ich bin auch menschlich enttäuscht. Ich habe mit vielen FDP-Kollegen viel diskutiert und frage mich jetzt: Waren all die Telefonate und Gespräche überhaupt echt? Wir wollten in der Koalition Industriearbeitsplätze sichern, haben für die Tarifbindung gekämpft. Und jetzt muss ich feststellen: Die FDP hat die ganze Zeit nur für sich selbst gekämpft und ein Schauspiel aufgeführt. Das ist unwürdig und die FDP soll sich bei den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land dafür entschuldigen.
Glauben Sie, dass vor allem Christian Lindner federführend war?
Offenbar wollten viele anständige FDP-Mitglieder diesen Weg nicht mitgehen, so viel kann man sagen. Es hat sich jedenfalls gezeigt: Kanzler Olaf Scholz hat sehr richtig gehandelt, als er Christian Lindner entlassen hat.
Welche Themen setzen Sie mit der SPD jetzt im Wahlkampf?
Es geht für mich um zwei große innenpolitische Themen. Wir wollen Politik für die arbeitende Mitte machen. Für Menschen, die das Land am Laufen halten und dafür sorgen, dass dieses Land stark ist. Wir wollen steuerliche Entlastung, und haben eine Einkommenssteuerreform im Blick, die dafür sorgen wird, dass 95 Prozent der Menschen mehr Geld in der Tasche haben. Und wir werden uns für Tarifbindungen einsetzen sowie für stabile Renten. Es geht aber auch um Fragen wie Kinderbetreuung. Für Eltern ist es eine riesige Herausforderung, wenn montags der Anruf kommt, dass die Kita für den Rest der Woche ausfällt. Das zweite große Thema ist, dass wir die Wirtschaft stärken. Es geht um den Erhalt von Arbeitsplätzen und um die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Deutschland ist in einem großen Wettkampf mit den USA, mit China, mit Indien. Ich möchte, dass die Industriearbeitsplätze erhalten bleiben. Und dafür müssen wir Rahmenbedingungen senken, günstigere Energiepreise schaffen und die Infrastruktur ausbauen.

Vor Neuwahlen: SPD will Einkommenssteuerreform und Tarifbindungen

Klingt nach einer großen Aufgabe. Wie möchten Sie die Menschen davon überzeugen, dass Ihre Partei typische SPD-Themen durchsetzen kann? Stichwort Bürgerversicherung, die gibt es immer noch nicht, obwohl sie seit Jahren angekündigt wird. Und auch das Rentenpaket kommt nicht.
Wir haben in dieser Legislatur gezeigt, dass wir unsere Anliegen durchsetzen. Beim Rentenpaket muss man klar sagen, da ist der FDP die Luft ausgegangen. Die hat das partout nicht gewollt, obwohl es im Kabinett beschlossen war. Die SPD hat den Mindestlohn durchgebracht, das Wohngeld ausgeweitet, das Kindergeld deutlich erhöht. Das zeigt, dass wir den Alltag und die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger im Blick haben.
Nach der Bundestagswahl wäre eine schwarz-rote Koalition eine nicht unwahrscheinliche Möglichkeit. Glauben Sie, damit wird es einfacher als mit der Ampel?
Ich führe überhaupt keine Gespräche über Koalitionen. Ich weiß, dass das alle jetzt schon interessiert, aber ich kämpfe als SPD-Vorsitzender für eine starke Sozialdemokratie. Und dafür bin ich jetzt jeden Tag unterwegs.
Wäre Boris Pistorius der bessere Kanzlerkandidat? „Es ist ein Trugschluss zu sagen: Wir tauschen jetzt den einen gegen den anderen aus, dann wird alles besser“, sagt SPD-Chef Lars Klingbeil.
In Umfragen steht die SPD aktuell allerdings bei 15 Prozent. Für einen Wahlsieg reicht das nicht.
Ja, wir sind noch lange nicht da, wo ich die Partei gerne hätte. Wenn wir bei 15 Prozent sind, dann reicht mir das nicht. Aber ich habe beim letzten Wahlkampf schon als Generalsekretär und Verantwortlicher im Wahlkampf gezeigt, dass ich kämpfen will. Und auch jetzt gehe ich voran und will eine starke Sozialdemokratie. Ich bin mir aber sicher, das wird ein deutlich besseres Ergebnis, als das heute der Fall ist. Und dann schauen wir, wie wir unter den demokratischen Parteien miteinander reden können.
Boris Pistorius ist in Umfragen beliebter als Olaf Scholz. Wäre er nicht der bessere Kanzlerkandidat?
Es ist ein Trugschluss zu sagen: Wir tauschen jetzt den einen gegen den anderen aus, dann wird alles besser. Ich verstehe, dass viele an der personellen Frage interessiert sind. Aber es geht jetzt um inhaltliche Fragen und nicht um Personaldebatten. Deswegen bin ich in diesen Tagen im Land unterwegs, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen und zu erfahren, was ihnen wichtig ist.
Heute sind Sie in Essen. Das Ruhrgebiet war traditionell immer SPD-Hochburg. Ist das hier eher Heimspiel? Oder sind die Leute nach all dem Ampel-Streit in NRW vielleicht besonders kritisch, weil sie enttäuscht sind?
Wir hatten schon zwei Veranstaltungen in Hamburg und in Mainz. Die SPD ist eine Partei, die wahnsinnig gerne diskutiert. Und das ist auch richtig, wenn der Parteivorsitzende und der Generalsekretär und andere vorbeikommen. Dass man kritisch mit denen redet und dass man denen auch was mit auf den Weg gibt. Das ist genau das, was wir wollen, und was wir anbieten. Klar ist die Situation in Mainz anders als in Hamburg, und da wieder anders als hier in Essen. Aber kritische Fragen gibt es überall. Und das zeigt, die SPD ist lebendig.

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