Fachkräftemangel
Warum Deutschland die Ingenieure und Ingenieurinnen fehlen – „lieber Influencer“
VonGiorgia Grimaldischließen
Im Land der Ingenieurskunst sind 160.000 Stellen unbesetzt. Woher dieser alarmierende Trend kommt und was die Branche dagegen unternimmt, erklärt ein Experte.
„Viele machen einfach lieber Digital Marketing oder Informatik“, sagt Daniel A.* „Da musst du nicht lange studieren und verdienst danach gutes Geld“. So erklärt er sich den akuten Fachkräftemangel im Ingenieurswesen. Daniel A. ist Bauingenieur aus Argentinien. Dort hat er sein Fach fünf Jahre lang studiert und anschließend einige Jahre gearbeitet.
Seit eineinhalb Jahren lebt er in Berlin. Die ersten Monate hat er Deutsch gelernt, sich um die nötigen Papiere gekümmert und in der Gastronomie gejobbt. Neun Monate später tritt er eine Stelle als Bauleiter in einem Brandenburger Unternehmen für Untergrundspeicheranlagen an. Damit hat Daniel A. ungewöhnlich schnell Fuß gefasst – doch das ist keine Seltenheit mehr. Zumindest nicht für qualifizierte Migrantinnen und Migranten, die sich in Branchen mit akutem Fachkräftemangel bewerben.
160.000 offene Stellen im „Job der Zukunft“
„Die gute Nachricht ist: In den letzten zehn Jahren hat es einen Beschäftigungszuwachs gegeben“, sagt Adrian Willig, Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) BuzzFeed News Deutschland, einem Portal von IPPEN.MEDIA. Regelmäßig untersucht der Verein im Rahmen eines Monitorings mit dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) den Arbeitsmarkt im Bereich des Ingenieurswesens. „Die schlechte ist: Die Zahl der offenen Stellen ist weiterhin hoch. Wir haben aktuell 160.000 unbesetzte Stellen. Und der Bedarf an Ingenieurs-Knowhow steigt weiter – alle Unternehmen brauchen Klimaanpassung und Digitalisierung.“
Gründe für diesen Engpass gibt es viele, erklärt Willig. Einer davon sei der demografische Wandel. Laut Zahlen des IW werden bis 2029 700.000 Beschäftigte im Ingenieurswesen in den Ruhestand gehen. Hinzu kommt: „Die Zahl der Studienanfänger im Bereich der Ingenieurswissenschaft ist gesunken, besonders für Maschinenbau, Verfahrenstechnik und Elektrotechnik. Dabei ist der Ingenieursberuf der Job der Zukunft. Informatik dagegen läuft gut.“
Dies ist ein Artikel von BuzzFeed News Deutschland. Wir sind ein Teil des IPPEN.MEDIA-Netzwerkes. Hier gibt es alle Beiträge von BuzzFeed News Deutschand.
Verein Deutscher Ingenieure fordert „ganzes Paket an Maßnahmen“
Auf die Frage, ob das Ingenieursstudium denn besonders schwer sei im Vergleich zu anderen sagt Willig: „Er ist natürlich anspruchsvoll. Manche wollen vielleicht lieber Influencer statt Ingenieur werden. Es ist eben manchmal leichter, viel Geld mit Social Media zu verdienen.“ Deswegen müsse man dringend die Attraktivität des Studiums steigern.
Es gibt weitere Baustellen. „In den MINT-Fächern schneiden Schüler schlecht ab“, sagt Willig. Das würde ein erfolgreiches Studium erschweren. „Außerdem hat der Ingenieursberuf von heute nichts mit dem von vor zehn Jahren zu tun.“ Es gebe mehr Interdisziplinarität, man brauche „erweiterte Skills“. Zudem bedarf es auch mehr Frauen im Berufsfeld. „Aktuell haben wir 20 Prozent Frauenanteil in der Branche. Dieser Anteil ist über die Jahre gestiegen, aber es braucht mehr“. Insofern müsse es auch mehr „Role Models“ – erfolgreiche Ingenieurinnen – geben.
Man müsse dafür sorgen, dass sich junge Menschen wieder mehr für Technik begeistern, etwa über außerschulische Angebote schon für die Kleinsten. Aber auch „New Work“ spiele eine wichtige Rolle. Man müsse sich fragen, wie wir „Arbeitszeit flexibilisieren“ und somit auch auf die „Anforderungen der jungen Generation“ reagieren können.
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Kein Bock auf Deutschland? „Klebeeffekt“ ist schwach
Eine weitere dringend notwendige Maßnahme sei die qualifizierte Zuwanderung. Wie Daniel A. kommen viele Fachkräfte schon mit abgeschlossenem Studium und Arbeitserfahrung nach Deutschland – bisher eine Voraussetzung, um beruflich Fuß zu fassen. Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz sieht vor, die Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Das gilt auch für Unternehmen, die Arbeitssuchende direkt aus dem Ausland anwerben.
Experten sehen auch großes Potenzial bei den angehenden Ingenieurinnen und Ingenieuren. „Aktuell haben wir 370.000 internationale Studierende in den Ingenieurswissenschaften in Deutschland. Wir gehören zu den attraktivsten Ländern, was Universitäten angeht“. Die Frage sei, ob die Studierenden danach auch in Deutschland bleiben wollen. Willig spricht vom „Klebeeffekt“, der aktuell zwischen 40 und 50 Prozent liege. Es stelle sich die Frage: „Haben die ausländischen Ingenieure überhaupt Bock, in Deutschland zu bleiben? Das Leben hier ist mit gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden – wir brauchen daher unbedingt eine Willkommenskultur.“
So sieht das auch Ingo Rauhut, Arbeitsmarktexperte und Projektleitung beim VDI. „Wir denken immer, Deutschland sei das tollste Land der Welt. Aber wenn man sich dann im Ausland umsieht, stellt man fest: Wir können noch so tolle Universitäten haben, wenn die Willkommenskultur in anderen Ländern besser ist, werden die Menschen nicht bei uns bleiben“.
*Um Daniels Privatsphäre zu schützen, nennen wir seinen Nachnamen nicht. Er ist der Redaktion bekannt.
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