Mehr als tausend Tote auf beiden Seiten

Wie konnte die Hamas Israels Militär so überrumpeln? Experten und Insider verweisen auf taktischen Fehler

  • Nadja Orth
    VonNadja Orth
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Der Terrororganisation Hamas hat am Sonntag israelische Zivilisten getötet und verschleppt. Experten erklären, wie der Angriff aus Gaza gelingen konnte.

Tel Aviv – Die tödlichen Kämpfe zwischen der israelischen Regierung und der radikalislamischen Hamas spitzen sich weiterhin zu. Nachdem am Samstag durch Großangriffe der Hamas eine neue Welle der Gewalt in Israel und Gaza ausgebrochen ist, blickt die Welt mit Entsetzen auf die unschuldigen Leben, die auf beiden Seiten genommen werden und auf dem Spiel stehen. Viele fragen sich: Wie konnte es der Hamas am Wochenende überhaupt gelingen, den Grenzzaun zu Israel überqueren und ihre Angriffe auszuführen, wenn das israelische Militär eigentlich als äußerst gut ausgebildet gilt? Experten geben einen Überblick.

Neue Eskalation seit dem Wochenende: Wie konnte die Hamas Israels Militär überrumpeln?

Dass militante Kämpfer der Hamas in Gaza die Grenze zu Israel überqueren konnten, ist laut dem Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Carlo Masala keinesfalls auf ein Versagen der Israel Defense Forces (IDF) zurückzuführen. „Die IDF haben deshalb nicht geliefert, weil sie nicht vor Ort waren. Das war eine politische Entscheidung, dass die IDF nicht dort sind, sondern im Westjordanland“, sagt Masala im Gespräch mit dem Online-Portal ntv. „Da kann man nicht von einer schlechten Performance der Streitkräfte reden.“

Warum das israelische Militär nicht ausreichend an der Grenze vertreten war, um einen Angriff zu verhindern, wirkt auf viele zunächst wie ein grober Fehler der Regierung. „Offenbar war ein Großteil im Westjordanland damit beschäftigt, Siedler dabei zu schützen, wie sie ihre Gottesdienste vor Palästinensern abhalten. Es ist verrückt, wie dünn besetzt die Grenze zu Gaza gewesen sein muss“, sagte ein israelischer Reservist gegenüber der Zeitung taz. Auch Israel räumte offiziell ein, dass es von einem Angriff, der zeitlich mit dem jüdischen Sabbat und einem religiösen Feiertag zusammenfiel, überrascht wurde.

Hamas plante Großangriff auf Israel über Jahre hinweg mit einer sorgfältigen Täuschung

Der Überraschungseffekt der Hamas ist dabei in einem größeren Kontext zu betrachten, als nur der zeitlichen Überlegenheit aufgrund eines jüdischen Feiertages. Über die letzten Jahre hinweg schuf die Hamas einen riesigen Deckmantel, unter dem sie ihren Großangriff planten. In Israel blieb man unterdessen im Glauben, dass die Terrororganisation noch zu schwach seien, um eine Herausforderung für die Armee darzustellen.

Dieses am 9. Oktober 2023 aufgenommene Foto zeigt israelische Panzer an der Grenze zwischen Israel und Gaza.

„Die Hamas hat Israel den Eindruck vermittelt, dass sie nicht auf einen Kampf vorbereitet ist“, sagte eine Hamas-nahe Quelle der Nachrichtenagentur Reuters. „Die Hamas hat in den letzten Monaten eine beispiellose nachrichtendienstliche Taktik angewandt, um Israel in die Irre zu führen, indem sie in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckte, sie sei nicht bereit, sich auf einen Kampf oder eine Konfrontation mit Israel einzulassen, während sie sich auf diese massive Operation vorbereitete.“ Am Wochenende stürmten militante Kämpfer schließlich mehrere israelische Städte, töteten laut offiziellen Angaben mehr als 700 Israelis und verschleppten Zivilisten nach Gaza.

Eskalation zwischen Hamas und Israel: Insider verweist auch auf jahrelangen politischen Fehler

Die Frage, wie die Hamas nicht nur kurzfristig gesehen, sondern auch langfristig betrachtet über die Jahre hinweg so mächtig werden konnte, könnte in der Theorie vermutlich ewig weitergedreht werden. „Ich kann nicht ignorieren, wie viel Macht unsere Politiker in den letzten 15 Jahren über die Situation hatten und wie ihre Politik der Hamas dabei half, zu wachsen. Dass es sehr wohl Chancen und Möglichkeiten gab, einen Dialog mit vernünftigeren Stimmen in der palästinensischen Gesellschaft zu suchen“, sagte der israelische Reservist aus Tel Aviv gegenüber der taz weiter. Seiner Meinung nach hätte eine solche Entwicklung, bei der unschuldige Menschen auf beiden Seiten sterben, verhindert werden können.

Die erbitterten Kämpfe zwischen Israel und der Hamas dauern unterdessen weiter an – und auch die Zahl der Todesopfer steigt seit des Ausbruchs des Kriegs am Samstag immer weiter: Die israelische Armee sprach am Mittwoch von 1.200 getöteten Israelis, von der Hamas wurden mehr als tausend getötete Menschen im Gazastreifen gemeldet. In dem Palästinensergebiet sind nach UN-Angaben mehr als 260.000 Menschen auf der Flucht. (nz)

Rubriklistenbild: © Ilan Assayag/JINI/IMAGO

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