„Zahlreiche Rechtsprobleme“
Schwere Vorwürfe gegen elf Krankenkassen: Belästigung und Täuschung von Patienten wohl an Tagesordnung
VonAmy Walkerschließen
In seinem aktuellen Bericht beschreibt das Bundesamt für Soziale Sicherung Fälle von Täuschung und Belästigung von Patienten. Die Vorwürfe treffen elf Krankenkassen.
Berlin – Versteckt in einem langen PDF-Dokument auf der Webseite einer relativ unbekannten Behörde wird über rechtswidriges Verhalten von mindestens elf großen Krankenkassen berichtet. Man habe „zahlreiche Rechtsprobleme“ festgestellt, heißt es dort auf Behördendeutsch. Im weiteren Verlauf ist von einschüchternden Anrufen, fehlender Information und irreführenden Schreiben die Rede – alles nur, damit ein Patient oder eine Patientin ihren Widerspruch gegen eine Entscheidung der Kasse zurücknimmt.
Krankenkassen wollen offenbar Klagen aus dem Weg gehen
Es gibt bestimmte Leistungen, die die gesetzlichen Krankenkassen nicht automatisch übernehmen – auch solche, die als medizinisch notwendig gelten. Bei diesen Leistungen müssen Patienten entweder selbst zahlen, oder nachweisen, dass es zum Beispiel einen begründeten Krankheitsverdacht gab oder der Patient zu einer Risikogruppe gehört. Doch auch dann kann die Krankenkasse den Antrag des Patienten ablehnen. Gegen diese Entscheidung können Patienten aber auch immer Widerspruch einlegen, innerhalb von vier Wochen. Dann soll die Krankenkasse den Antrag erneut prüfen und nochmals entscheiden, ob die Leistungen übernommen werden. Dieses Verfahren kann in Extremfällen bis zu einer Klage des Patienten führen.
Um eine Klage zu verhindern und diesem teils langwierigen Prozess aus dem Weg zu gehen, haben mindestens elf Krankenkassen womöglich über Jahre hinweg versucht, Patienten zu täuschen und zum Rückzug ihrer Widersprüche zu nötigen. In ihrem Tätigkeitsbericht für 2022 hat das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS), das als Aufsichtsbehörde für 60 gesetzliche Kranken- und Pflegekassen fungiert, darauf aufmerksam gemacht.
„Ferner wurden Versicherte oftmals nicht umfassend über die Rechtsfolge einer Rücknahme des Widerspruchs informiert“, heißt es im BAS-Bericht. In einigen Fällen wurden laut Bericht „irreführende Schreiben“ an Patienten geschickt, um es so aussehen zu lassen, als sei die Bearbeitung des Widerspruchs schon abgeschlossen – obwohl das nicht der Fall war. Es war dem BAS zufolge auch gängige Praxis, den Patienten ein Formular zur Rücknahme ihres Widerspruchs zukommen zu lassen.
Vorgehen der Kassen war wohl Teil der Arbeitsanweisungen für Mitarbeitende
Auf Anfrage von IPPEN.MEDIA schreibt das BAS, dass sie schon seit Jahren Beschwerden über solche Vorfälle erhalten haben. So habe die Behörde schon in den Jahren 2018 und 2020 Rundschreiben an die von ihnen beaufsichtigten Krankenkassen geschickt, in denen sie darüber aufklären. „Auch nach der Veröffentlichung der Rundschreiben erreichen das BAS nach wie vor Beschwerden von Versicherten, die über dieses Verhalten der Träger berichten. Auch die Unabhängige Patientenberatung und der Patientenbeauftragte berichtete dem BAS über ähnliche Beschwerden“, so der Sprecher des BAS.
Schlimmer noch: Dieses Vorgehen war bei den Kassen nicht nur gängige Praxis, sondern in den Arbeitsanweisungen für Mitarbeitende festgeschrieben. Diese Arbeitsanweisungen hatte das BAS nach den erfolglosen Rundschreiben an die Kassen angefordert.
Die elf Krankenkassen, die das BAS wegen der zahlreichen Beschwerden genauer unter die Lupe genommen hat, sind:
- BKK Wirtschaft & Finanzen
- BARMER
- TK
- BKK Herford Minden Ravensberg (jetzt Melitta BKK)
- Knappschaft
- SBK
- BKK VBU
- BKK Freudenberg
- BKK Pfalz
- IKK classic
- mhplus BKK
Da das BAS nicht alle gesetzlichen Kassen beaufsichtigt, könne sie nicht sichergehen, ob dieses Vorgehen auch bei anderen Krankenkassen üblich sei, so das BAS gegenüber IPPEN.MEDIA.
Die Behörde sah sich gezwungen, die Arbeitsanweisungen der betroffenen Krankenkassen gemeinsam mit den Kassen zu überarbeiten. „Hierzu führte das BAS mit elf Krankenkassen Gespräche und stand weiteren Krankenkassen beratend zur Optimierung ihrer Arbeitsanweisungen zur Verfügung“, heißt es im Tätigkeitsbericht. Ebenfalls wurde bewirkt, dass die Krankenkassen nicht mehr ihre Patienten anrufen, wenn diese ein Widerspruchsverfahren eröffnet haben. Vielmehr solle „das Beratungsersuchen vom Versicherten ausgehen“. Auf Deutsch: Der Versicherte soll selbst beim Träger anrufen, wenn er zum Widerspruchsverfahren noch Fragen hat. Die Kassen sollen dies nicht mehr auf eigene Faust tun.
Krankenkassen teils überrascht über die Vorwürfe
Die Krankenkassen weisen die Vorwürfe zurück. Die TK bestätigt auf Anfrage, dass Gespräche mit dem BAS geführt wurden, auch wegen der Arbeitsanweisungen. Diese wurden nun angepasst, damit „nicht der Eindruck erweckt wird, sie [die Versicherten, Anm. d. Red.] sollten ihre Widersprüche zurücknehmen“, so eine Sprecherin der TK. Die Rundschreiben in den Jahren 2018 und 2020 hätten die Anweisungen der TK aber nicht betroffen, so die Sprecherin weiter.
Die IKK classic bezieht nur vage Stellung: „Die Einhaltung von Recht und Gesetz ist selbstverständlich Grundsatz der IKK classic.“ Es sei immer schon Bestandteil der Arbeitsanweisungen gewesen, dass die Rechte von Widerspruchsführenden beachtet würden, so eine Sprecherin der Krankenkasse.
Die BARMER schreibt, dass sie 2022 mit dem BAS keinen Kontakt zum Thema Widersprüche hatten. Aber, das bestätigt eine Sprecherin, die Krankenkasse hatte nach den Rundschreiben 2018 und 2020 ihre Prozesse anpassen müssen.
Bei wieder anderen Kassen ist man überrascht zu hören, dass sie vom BAS als betroffene Krankenkasse genannt wurden. So auch bei der BKK Pfalz. „Mir sind keine Beschwerden von unseren Versicherten bekannt, die sich auf die Bearbeitung von Widersprüchen im Sinne des Tätigkeitsberichtes des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) beziehen“, berichtet der Vorstandsvorsitzende Hans-Walter Schneider auf Anfrage.
Im Falle eines Widerspruchs sei es oft sinnvoll, nochmal mit Patienten Rücksprache zu halten, um beispielsweise mehr Nachweise anzufordern. „Unsere Intention ist, den Versicherten im Rahmen der rechtlichen Vorgaben jederzeit einen umfassenden Versicherungsschutz zu ermöglichen und das sowohl vor als auch im Widerspruchsverfahren. Das zeigt auch die Quote von mehr als der Hälfte der Widersprüche, über die bereits unser Fachbereich eine positive Zweitentscheidung im Sinne der Versicherten treffen konnte“, so Schneider weiter.
Das schreibt auch die SBK in ihrer Stellungnahme. Es sei „oft am sinnvollsten, direkt mit dem Versicherten in Kontakt zu treten, um z.B. fehlende Unterlagen anzufordern oder offene Fragen zu klären“, so eine Sprecherin. „In keinem Fall ist es Teil unserer Arbeitsanweisung, auf eine Rücknahme des Widerspruchs zu drängen - weder telefonisch noch schriftlich.“ Die SBK veröffentlicht in einem jährlichen Transparenzbericht die Zahl der Widersprüche und Beschwerden, die die Kasse erreicht haben.
Die BKK HMR, die heute BKK Melitta heißt, schreibt, dass sie nichts von den Vorwürfen des BAS wissen. „Keine der in den Rundschreiben des BAS aus den Jahren 2018 und 2020 zutreffend bemängelten Praktiken im Rahmen von Verfahren der Widerspruchsbearbeitung wurde von der damaligen BKK HMR ausgeübt“, sagt ein Sprecher der BKK Melitta auf Anfrage. Im Jahr 2022 habe es ebenfalls keine Prüfung des BAS gegeben. Mit der Fusion der BKK HMR und der BKK Melitta Plus wurden die Arbeitsanweisungen sowieso neu gefasst, erklärt der Sprecher. Die Kasse halte sich „strikt“ an die gesetzlichen Vorschriften.
Die BKK Wirtschaft & Finanzen meldet sich nun ebenfalls zu Wort. „Um den betroffenen Versicherten vor der Entscheidung des Widerspruchsausschusses nochmals rechtliches Gehör zu verschaffen, haben wir seinerzeit eine ausführliche Anhörung mit allen Erwägungsgründen an Betroffene versendet. Nach einem Beratungsgespräch mit dem BAS haben wir uns dann darauf verständigt, Anhörungen nur noch in den gesetzlichen vorgeschriebenen Fällen durchzuführen“, heißt es von einem Pressesprecher.
Weitere Anfragen an andere Krankenkassen wurden bis Redaktionsschluss nicht beantwortet.
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