Leonhard Birnbaum, Vorstandsvorsitzender von Eon.
+
Leonhard Birnbaum, Vorstandsvorsitzender von Eon.

Interview

Eon-Chef warnt : „Strompreis wird sich auf immer mehr Güter auswirken“

Die Reform des europäischen Strommarktes droht zu scheitern, warnt Eon-CEO Leonhard Birnbaum. Er spricht über Industriestrompreise, Kapazitätsmechanismen und fehlende Prioritäten in der EU-Politik.

Herr Birnbaum, hängt die Zukunft der europäischen Industrie allein von niedrigen Energiepreisen ab? 
Die Probleme der europäischen Industrie sind aus meiner Sicht vielfältiger. Wir haben ganz klar ein Problem zwischen den großen Machtblöcken dieser Welt. Und dafür sind wir weder geopolitisch noch institutionell passend aufgestellt. Wir sind als Europa nicht innovativ genug. Wir haben keine ausreichende Infrastruktur. Was unsere Finanzierungsmöglichkeiten angeht, sind wir zu abhängig von den angelsächsischen Kapitalmärkten. 
Und der europäische Binnenmarkt?
Wir haben zwar 400 Millionen Kunden. Aber dann schauen Sie sich die Digitalmärkte an, wo wir es geschafft haben, mit 27 Auslegungen der Datenschutzgrundverordnung den europäischen Markt zu atomisieren. Neue Geschäftsmodelle setzen sich deshalb in den USA durch, die wir dann übernehmen müssen. Für einige Sektoren mögen die Energiepreise entscheidend sein, aber wenn wir die Frage der Wettbewerbsfähigkeit auf die Energiekosten reduzieren, machen wir es uns zu einfach. 
Um genau diese energieintensiven Sektoren sorgen sich der Bundeswirtschaftsminister und die Ministerpräsidenten. Sie wollen den Strompreis für einige Jahre subventionieren, bis erneuerbare Energien den Preis drücken – auf fünf oder sechs Cent. Wie lang wäre diese Überbrückungsphase?
Am Ende ist ein subventionierter Industriestrompreis eine politische Entscheidung. Man muss nur drei Fragen beantworten. Die erste haben Sie gerade gestellt: Wie lange dauert das? Im Moment ist die Hoffnung, dass nach fünf, sechs Jahren die Brücke überflüssig wird, weil dann die Fossilen teurer sind als die Erneuerbaren. Mag sein, aber an dieser Spekulation will ich mich nicht beteiligen. Die zweite Frage ist: Wenn die Brücke länger wird, wie komme ich dann wieder runter von den Zahlungen? Das ist bei jeder Subvention die Frage, wenn sie einmal eingeführt wurde. Und drittens: Sind die finanziellen Mittel so am besten eingesetzt? Und wer bezahlt? Die Kunden, die nicht begünstigt werden, müssen natürlich höhere Kosten tragen.

So bekommen Sie den Newsletter von Table.Media

Dieses Interview liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Europe.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte es Europe.Table am 17. September 2023.

Erhalten Sie 30 Tage kostenlos Zugang zu weiteren exklusiven Informationen der Table.Media Professional Briefings – das Entscheidende für die Entscheidenden in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und NGOs.

„Energiepolitik ist zu einer industriepolitischen Debatte geworden“

Der deutsche Vorstoß wird auch mit der Sorge begründet, dass Frankreich seine Industrie über den Strompreis künftig noch stärker unterstützt. Paris versucht das über die Strommarktreform, die gerade in der EU läuft. Teilen Sie diese Bedenken?
Die Energiepolitik in Brüssel dreht sich gar nicht mehr um das Strommarktdesign, sie ist zu einer industriepolitischen Debatte geworden. Wir erleben eine Diskussion über den Industriestrompreis zwischen Deutschland und Frankreich. Als europäischer Energieverband haben wir kein Interesse daran, dass die Strommarktreform an Themen scheitert, die eigentlich jenseits der Frage des Marktdesigns liegen.  
Kurz gesagt geht es um die Modernisierung von Kraftwerken über staatlich abgesicherte Differenzverträge und die Umverteilung von Gewinnen – vor allem aus dem Betrieb von Atomkraftwerken.
Eurelectric will keine rückwirkende Anwendung von Differenzverträgen auf existierende Erzeugungskapazitäten. Das haben wir von Anfang an gesagt. Aber jetzt gibt es dieses Unterthema: Was ist mit den Gewinnen von Kernkraftwerken, die eine Verlängerung der Laufzeit bekommen? Ist das neue Kapazität, weil sie ja sonst nicht zur Verfügung gestanden hätte? Ich hoffe, dass Frankreich und Deutschland einen Weg finden, der die Diskussion für beide Seiten abräumt. Als Energieunternehmen wollen wir, dass die Debatte um das Strommarktdesign zügig abgeschlossen wird.

„Schwierig, wenn jeder Staat selbst entscheidet“

Mal abgesehen vom Spezialfall Atomenergie: Wem sollen Erlöse aus neuen Kraftwerken zufließen, wenn die Strompreise wieder exorbitant steigen? Die Kommission wollte eine Aufteilung auf alle Stromkunden. Andere möchten die Einnahmen für die Industrie nutzen. Am Ende könnte es den nationalen Regierungen überlassen bleiben. 
Ich halte es für schwierig, wenn jeder Mitgliedstaat selbst über die Verteilung von Einnahmen aus Differenzverträgen entscheidet. Die Stärkung des europäischen Marktes muss im Interesse aller Europäer sein, und der Strompreis wird sich auf immer mehr Güter auswirken. Wenn ich den EU-Ländern sehr große Freiheitsgrade gebe, die Preise für Endkunden zu beeinflussen, dann muss ich mir zumindest darüber im Klaren sein, dass dies massive Auswirkungen auf den gemeinsamen Binnenmarkt hat.
Mit der Strommarktreform ist auch die Frage nach Kapazitätsmärkten für regelbare Kraftwerke wieder hochgekocht. Polen möchte sogar alte Kohlekraftwerke weiter staatlich stützen. Kann das Land seine Versorgung nicht klimafreundlicher sichern? 
Ich habe mir sagen lassen, dass Polen kurzfristig tatsächlich Probleme hätte, wenn es seine alten Kohlekraftwerke aus dem System nehmen würde. Deshalb halte ich die übergangsweise Ausnahme bei den CO₂-Grenzwerten für einen akzeptablen Wunsch. Polen macht ja eine Energiewende und zwar auch mit erneuerbaren Energien – nicht nur mit Kernenergie, die irgendwann mal kommt. Und die Polen wollen kein Backup mit Gaskapazitäten schaffen, wie wir das in Deutschland diskutieren. Das liegt auch an der Sensitivität des Landes, seine Unabhängigkeit sicherzustellen. Ich würde aus der Frage nach Kapazitätsmechanismen für polnische Kohlekraftwerke keine Grundsatzdiskussion für Europa machen. Das kann Polen bilateral mit der Kommission klären.
Die Frage von CO₂-Grenzwerten für Kapazitätsmechanismen sollte also nicht mit der Novelle der Strommarkt-Verordnung behandelt werden?
Die Frage sollte zumindest nicht die Novelle blockieren.

„Deutschland hat sich zu sehr aufs Abschalten fokussiert“

Sie haben die Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums für neue Gaskraftwerke angesprochen. Für die Einführung von Kapazitätsmechanismen gibt es ein europäisches Prozedere, das aber Jahre dauert. Hat Deutschland die Einführung von Kapazitätsmärkten einfach verschlafen?
Sagen wir es mal so: Deutschland hat sich sehr auf das Abschalten fokussiert und ist offensichtlich sehr spät dran. Wenn wir die Kapazität an Gaskraftwerken, die jetzt zur Diskussion steht, noch fertig bekommen wollen bis 2030, dann ist es eher fünf nach zwölf als fünf vor zwölf. Ich habe aber keine klare Vorstellung davon, wie die Prüfung von Kapazitätsmechanismen in Brüssel beschleunigt werden kann.
Was gerade auf EU-Ebene beschleunigt wird, ist der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze. Genügen die Erleichterungen aus der Erneuerbaren-Richtlinie für das nötige Tempo?
Es ist ein hilfreicher Schritt in die richtige Richtung, aber es ist allein nicht ausreichend. Wir brauchen keine punktuellen Ausnahmen, wir brauchen flächendeckend eine Vereinfachung des Systems – und zwar auf allen Ebenen. Nur ein Beispiel aus der Windbranche: Für Transporte von Rotorblättern erhält man von der Autobahngesellschaft des Bundes keine Genehmigungen in akzeptabler Zeit. Das geht weiter mit diversen anderen Bundesanstalten, den Genehmigungsbehörden in 16 Bundesländern, den DIN-Ausschüssen. Wir brauchen überall ein anderes Mindset. Wir müssen Sachen möglich machen. Der Kanzler redet vom Deutschlandtempo. Und im Tagesgeschäft habe ich mit Behörden zu tun, die sagen: Ich habe hier meine Vorschrift. 

„Wenn alles wichtig ist, ist nichts wichtig“

Noch einmal zurück auf die europäische Ebene: Die Kommissionspräsidentin hat in Straßburg eine neue Phase des Green Deals ausgerufen. Was bedeutet es für die nächste europäische Legislatur, wenn die Energiepolitik stärker von der Industriepolitik beeinflusst wird?
Mit der Energiekrise haben sich die Gewichte verschoben. Der Green Deal war sehr stark auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Jetzt ist es nicht mehr das einzige, um das wir uns kümmern können. Das bedeutet nicht, dass wir keine Energiewende mehr machen wollen, die wird weiterlaufen. Aber es ist eben nicht so, dass alles automatisch gut wird, wenn wir uns nur um die Energiewende kümmern. Wenn ich mir einen Rat erlauben darf, dann wäre es schön, wenn die Europäer Prioritäten erkennen lassen würden. Kann man auch mal ein paar Gesetzesvorhaben fallen lassen? Wenn alles wichtig ist, ist nichts wichtig. Das ist eine eisenharte Regel. Die Rede von Frau von der Leyen war eine ganz lange Liste. Aber was sind denn die zwei, drei Dinge, die wirklich zählen?
Sie haben sicher eine Vorstellung.
Als Eurelectric-Präsident habe ich drei Prioritäten. Das eine ist Versorgungssicherheit. Mit der Energiekrise ist sie wieder zurück auf der Agenda. Nummer zwei: Wir brauchen eine bessere Infrastruktur. Ich sage das nicht nur für die Energiewirtschaft. Es gilt auch für die digitale Infrastruktur. Und Nummer drei: Wir brauchen eine faire Verteilung von Risiken und Benefits. Welche Prioritäten sich die Kommission setzt, ist mir eigentlich egal, solange sie sich welche setzt. Aber im Moment werden wir von einer Flut an Regulierungen in allen möglichen Bereichen überrollt, die überhaupt keine Prioritäten erkennen lassen. Solche Schwerpunkte würde ich mir wünschen.

Mehr zum Thema