Michael Hüther
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Prof. Stefan Kooths ist Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel). 

Prof. Stefan Kooths

Wirtschafts- und Finanzpolitik: Zurück auf Los!

  • Prof. Dr. Stefan Kooths
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Die Ampel steht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts angesichts eines milliarden-schweren Haushaltslochs am Scheideweg. Gefragt ist jetzt eine umfassende politische Neuausrichtung, schreibt der Konjunkturchef des Kiel Institut für Weltwirtschaft, Prof. Stefan Kooths, und plädiert für ein Bündel an Maßnahmen, von einer Rentenreform über den radikalen Umbau der Energiepolitik und verbesserte Arbeitsanreize bis hin zur Gründung von Investitionsgesellschaften, um die in weiten Teilen marode deutsche Infrastruktur auf Vordermann zu bringen.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Befüllung des Klima- und Transformationsfonds (KTF) ist für die Regierungsparteien guter Rat teuer. Denn die Entscheidung, die auch auf die anderen Sondervermögen – insbesondere den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) – ausstrahlt, hat den Koalitionären ihre vor zwei Jahren gefundene Kompromissformel durchkreuzt. Diese sah vor, sich für die gemeinsame Regierungszeit vorab einen ordentlichen Schluck Extra-Schulden zu gönnen.

Die auf Vorrat eingeholten Kreditermächtigungen waren großzügig bemessen, aber der Höhe nach gedeckelt. So bekam die eine Seite höhere Ausgabenspielräume, während die andere sich zugutehalten konnte, den Schuldenanstieg eingehegt und weiteres Drehen an der Abgabenschraube verhindert zu haben. Auf diese Weise ließen sich die ansonsten weit auseinanderliegenden wirtschaftspolitischen Vorstellungen zumindest finanzpolitisch überbrücken. Diese Brücke ist nun eingestürzt. Damit kommt es erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte dazu, dass wichtige Teile des Koalitionsvertrags zur Mitte der Legislaturperiode neu verhandelt werden müssen. Dies gleicht einer Operation am offenen Herzen, weil es nicht nur ums Geld, sondern auch parteipolitisch ans Eingemachte geht.

Stimme der Ökonomen

Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?

In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.

Einige Akteure sprechen vor diesem Hintergrund schon von der größten Herausforderung, die je eine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik zu bewältigen hatte. Das ist arg übertrieben. Hierzu muss man gar nicht bis in die Trümmerjahre der Nachkriegszeit zurückgehen. Auch die Wiedervereinigung, die Finanzkrise, die Coronapandemie oder die Energiekrise waren finanzpolitisch von einem ganz anderen Kaliber. Denn dort herrschte erhebliche Ungewissheit über Ausmaß und Dauer der zu bewältigenden Aufgabe.

Demgegenüber ist der jetzt erforderliche Handlungsbedarf klarer umrissen, auch sind die Dimensionen andere und die Instrumente bekannt. Die konkret beklagten 60 Milliarden Euro aus den Corona-Rettungsprogrammen, die unzulässigerweise in den KTF umgewidmet wurden, entsprechen – gestreckt auf vier Jahre – 3,5 Promille der Wirtschaftsleistung. Das ist allerdings nur ein Teil des Problems, denn das Urteil aus Karlsruhe gilt faktisch auch für andere Positionen. Hierzu zählen die nachträglich vorgenommenen Umbuchungen zugunsten des KTF und anderer Sondervermögen, die bis ins Jahr 2016 rückwirkend Gelder mobilisieren sollten und rund weitere 40 Milliarden Euro ausmachen. Zudem steht der Umgang mit dem WSF infrage, aus dem im Wesentlichen die Energiehilfen bestritten wurden. Auch der eine oder andere Landeshaushalt dürfte betroffen sein.

Bund bleibt handlungsfähig - trotz der Milliarden-Lücke nach dem Urteil aus Karlsruhe

Insgesamt könnte sich der Konsolidierungsbedarf für das kommende Jahr auf das Dreifache dessen belaufen, worüber in Karlsruhe konkret entschieden wurde. Das ist keine Kleinigkeit. Gleichwohl zeigt ein Blick auf die Ausgabenquote, dass der Staat deshalb nicht auf Magerkost gesetzt werden muss: Lagen die Staatsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2019 noch bei 45 Prozent, sind es derzeit 48 Prozent (nach über 50 Prozent in den Jahren 2020 und 2021). Mithin wird immer noch fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung durch die öffentlichen Kassen geschleust. Es gibt also Manövriermasse und einen weiterhin handlungsfähigen Staat.

Prioritäten setzen

Die sachgerechte Reaktion auf einen engeren Finanzrahmen heißt Priorisierung. In diesem Sinne verhindert die Schuldenbremse nicht die wichtigsten Staatsausgaben, sondern die unwichtigsten. Das Problem dabei: Die Koalitionäre tun sich äußerst schwer, diese Prioritäten im Konsens zu identifizieren, weil ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Ansichten weit auseinander liegen. Genau aus diesem Grund war man vor zwei Jahren auf die trickreiche Umgehung der Schuldenbremse ausgewichen. Die Logik politischer Aushandlungsprozesse spricht dafür, dass die Ampel-Parteien jetzt auf der gesamten finanzpolitischen Klaviatur spielen werden, um den Bundeshaushalt zurück in verfassungsmäßige Bahnen zu lenken.

Für das laufende Jahr dürfte dies auf das abermalige Ausrufen einer Notlage hinauslaufen, um insbesondere den Mittelabruf aus dem WSF zu heilen. Weil die Energiekrise noch in dieses Jahr hineinragt, ist das ökonomisch grundsätzlich vertretbar. Denn implizit war die Bundesregierung davon ausgegangen, dass die Voraussetzung für eine Notlage fortwirkt, nur dass sie es versäumt hatte, diese explizit zu erklären. Ein solches nachträgliches Vorgehen mag nicht sehr elegant wirken. Aber Schönheitspreise sind in einer derart verfahrenen Lage kaum zu gewinnen. Vielmehr kommt es darauf an, das staatliche Finanzgebaren insgesamt zu bereinigen und den Bundeshaushalt 2023 wieder auf verfassungsfeste Füße zu stellen. Für das Jahr 2024 ließe sich dieses Manöver indes nicht plausibilisieren. Die Bundesregierung ist derzeit in Nöten, aber eine gesamtwirtschaftliche Notlage sieht anders aus.

Gas- und Strompreisbremsen auslaufen lassen

Mittlerweile haben sich die Energiepreise nach der dramatischen Zuspitzung im vergangenen Herbst deutlich ermäßigt, so dass die meisten Verbraucher am Markt wieder Anbieter finden, deren Tarife unter den Niveaus der Energiepreisbremsen liegen. Deren Wegfall wäre auch ohne das BVerfG-Urteil geboten gewesen, denn derartige Eingriffe sollten schon aus ordnungspolitischen Gründen eine restriktiv gehandhabte Ausnahme bleiben, zumal sie den Wechsel zu einem günstigen Anbieter eher hemmen. Selbst für den Fall, dass die Erdgaspreise wieder stärker anziehen, würde dies in der kurzen Frist infolge der in Deutschland recht trägen Überwälzung zunächst kaum auf die Verbrauchertarife durchschlagen. Auch das spricht dafür, die Anfang November bis Ende April 2024 verlängerten Gas- und Strompreisbremsen bereits zum Jahresende auslaufen zu lassen. Die hierfür im WSF veranschlagten – ohnehin eher hypothetischen – Mittelbedarfe würden so entbehrlich. Kehrte hingegen die Energiekrise mit voller Wucht zurück, wäre sowieso eine neue Situation gegeben, auf die die Regierung mit einem abermaligen Notprogramm reagieren könnte.

Die Energiepreisbremsen sind nicht das einzige Beispiel dafür, dass ein enger gezogener Finanzrahmen der Politik ordnungspolitisch auf die Sprünge helfen kann. So wurde keine 24 Stunden nach dem Urteilsspruch aus Karlsruhe als erstes die Mehrwertsteuerbegünstigung für die Gastronomie abgeräumt. Darin zeigt sich anschaulich, was in einem weiter geschnittenen Schuldenmantel so alles seinen Platz findet. Eine Kreditaufnahme erhöht eben nicht zwangsläufig die Ausgaben für das, was konkret damit finanziert werden soll, sondern vielmehr für all das, was sonst hätte wegfallen müssen. Frédéric Bastiat („Was man sieht und was man nicht sieht“) lässt grüßen. Vielleicht trifft der Rotstift am Ende auch den stellenreichen Aufbau einer gesonderten Bürokratie für den neuen Familienservice. Ein Schaden wäre das nicht.

Überfälliger Kurswechsel in der Energie- und Klimapolitik

Was immer sich über verschiedene Einzelmaßnahmen konsolidieren lässt – der Elefant im Raum bleibt die Energie- und Klimapolitik. Das Kennzeichen der amtierenden Bundesregierung ist eine transformative Industriepolitik, die sich vor allem auf kreditfinanzierte Subventionen stützt. Dies betrifft sowohl Investitionszuschüsse als auch Subventionen, mit denen die tatsächlichen Energiekosten hierzulande politisch gedrosselt werden. Hierzu zählen die Übernahme der EEG-Förderung oder subventionierte Netzentgelte. Diesem Ansatz fehlt jetzt die fiskalische Grundlage.

Eine Antwort wäre, nun stärker auf marktwirtschaftliche Instrumente zu setzen, also auf einen Dekarbonisierungsprozess, der sich über CO₂-Preise regelt. Die Einnahmen daraus könnten für den sozialen Ausgleich (Klimageld) verwendet werden. Den sich daraufhin vollziehenden Strukturwandel muss man dann aber auch zulassen. Denn auf Dauer wird man die im Energiebereich bestehenden Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen Weltregionen nicht ausgleichen können. Industriestrompreisbrücken dürften sich vielmehr als trügerisch erweisen und würden in der Zwischenzeit knappe Ressourcen beanspruchen, die an anderer Stelle den Standort dauerhaft stärken könnten. Das liefe auf einen drastischen Kurswechsel in diesem Politikfeld bei der Wahl der Instrumente hinaus, ohne das Ziel aufzugeben. Bislang zeichnet sich noch nichts in dieser Richtung ab, aber alternativlos ist der bisherige Weg nicht.

Schuldenbremse erhält wieder Biss

Nach dem BVerfG-Urteil hat die Schuldenbremse wieder Biss. Selbst die Union scheint überrascht, wie deutlich die Verfassungsrichter die Regel geschärft haben. Kein Wunder, dass daraufhin die Debatte um Sinn und Unsinn der Schuldenbremse neu entfacht ist. Nun ist kein Regelwerk je über alle Zweifel erhaben, aber Reformen sollten niemals aus akuter Finanznot heraus, sondern aus stabilitätspolitischen Grundsatzerwägungen erfolgen. Zweckmäßig erscheint eine Anpassung in der Weise, dass nach einem Makro-Schock, der zum Ziehen der Notfallklausel führt, automatisch ein Übergangszeitraum (z. B. drei Folgejahre) einsetzt, in dem die strukturellen Nettokreditaufnahme wieder an das in normalen Zeiten geltende Niveau herangeführt werden. Dieses Design ähnelt dem Vorgehen bei der Einführung der Schuldenbremse. Dadurch ließe sich fortan der Anpassungsprozess nach Notlagen finanzpolitisch sanfter bewältigen. Das trüge zugleich dem Umstand Rechnung, dass Zeitenwende-Ereignissen mitunter strukturell erhebliche Umschichtungen im Haushalt erfordern, die aber kurzfristig nur schwer zu bewältigen sind. Klar wäre mit einer solchen Regel aber auch, dass dauerhafte Staatsausgaben – etwa für die Verteidigung oder die Dekarbonisierung – im Haushalt bereits in mittlerer Frist wieder aus laufenden Steuereinnahmen gedeckt sein müssen.

Produktivitätsbremsen endlich lösen

Dem Standort wie auch den finanzpolitischen Spielräumen bekäme es gut, wenn über die Produktivitätsbremsen hierzulande mit ebenso viel Eifer diskutiert würde wie über die Schuldenbremse. Angebotspolitik für mehr Wachstum ist keine Geheimwissenschaft. Sie wäre auch ohne das jüngste Karlsruher Urteil schon allein aufgrund der demografischen Entwicklung dringend geboten. Das fängt mit dem Abbau bürokratischer Fesseln an und umfasst eine überfällige Rentenreform ebenso wie bessere Arbeitsanreize im Steuer-Transfer-System sowie deutliche Verbesserungen im Bildungssystem. Erst wenn der Standort insgesamt wieder vorne mitspielen kann, wird das Land auch attraktiv für dringend gebrauchte gut qualifizierte Zuwanderer, die sich hier eine Zukunft aufbauen wollen.

Für die Infrastrukturfinanzierung – etwa im Straßen- und Schienenbereich – bietet sich auch schon unter der bestehenden Schuldenbremse die Möglichkeit, verstärkt auf Investitionsgesellschaften zu setzen und diese am Markt verschuldungsfähig zu machen. Ordnungspolitisch geht das mit vermehrter Nutzerfinanzierung einher, was grundsätzlich zweckmäßig ist. Zugleich müssen private Geldgeber am Risiko beteiligt sein, um das Haftungsprinzip zur Geltung zu bringen. Nur dann werden sie auch verstärkt darauf achten, dass die Mittel in lohnende Investitionsvorhaben gelenkt werden. Durch eine solche Entstaatlichung würde nicht nur der öffentliche Haushalt entlastet, sondern zugleich die Weichen für mehr Effizienz gestellt.

Die aktuelle Haushaltslage schürt auch im Privatsektor erhebliche Unruhe. Unsicherheit ist generell Gift für die Konjunktur, weil sie zu Attentismus führt. Das ist maßgeblich dem Umstand geschuldet, dass die Bundesregierung keinen Plan B hat und nun in eine Koalitionskrise stolpert. Denn was den Ampel-Parteien mehr fehlt als das Geld, ist ein Vorrat gemeinsamer Überzeugungen. Umso weniger klar sind die Leitlinien der Politik, an denen sich sonst die privaten Akteure orientieren könnten und die daher schon für sich genommen stabilisierend wirken würden.

Zur Person: Prof. Stefan Kooths ist Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel). Er lehrt Volkswirtschaftslehre an der BSP Business and Law School in Berlin/Hamburg und ist Vorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.