Ohne Insolvenzen
Forscher alarmiert: „Leises Industriesterben in Deutschland“
VonLisa Mayerhoferschließen
Immer mehr Unternehmen in Deutschland rutschen in die Pleite. Forscher zeigen sich in einer aktuellen Studie darüber alarmiert, dass die industrielle Basis im deutschen Mittelstand stark schwindet.
Mannheim – Die insolvente Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof, die nun 16 Filialen schließen muss, ist nur das prominenteste Beispiel: Immer mehr Unternehmen gehen pleite – nicht nur im Einzelhandel. Auch die Industrie ist immer stärker betroffen. Eine aktuelle Studie des ZEW Mannheim – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung – in Zusammenarbeit mit Creditreform legt nahe, dass die industrielle Basis im deutschen Mittelstand stark schwindet.
Insolvenzen: Vor allem forschungsintensive Wirtschaftszweige betroffen
Demnach wurden allein im vergangenen Jahr in Deutschland rund 176.000 Unternehmen geschlossen. „Die meisten davon still und leise, nur elf Prozent der Schließungen sind die Folge einer Insolvenz“, erklärt das ZEW in einer Mitteilung. Im Vergleich zu den Schließungen im Jahr 2022 bedeute dies über alle Branchen und Unternehmensgrößen hinweg einen Anstieg um 2,3 Prozent, so die Forscher.
Alarmierend sei, dass damit nicht nur die industrielle Basis schrumpfe, warnt das ZEW. Der Auswertung zufolge nehme nämlich zudem die Zahl der Schließungen in den forschungsintensiven Wirtschaftszweigen mit plus 12,3 Prozent deutlich stärker zu als in den nicht forschungsintensiven.
„In Branchen wie der Möbelherstellung oder der Produktion von Spielwaren und Sportgeräten verzeichnen wir sogar sinkende Schließungszahlen“, sagte Sandra Gottschalk, Wissenschaftlerin im ZEW-Forschungsbereich „Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik“. „In anderen Bereichen, wie etwa der Chemie- und Pharmaindustrie, dem Maschinenbau und bei technologieintensiven Dienstleistungen scheiden jedoch mehr Unternehmen aus dem Markt aus“, so Gottschalk. Dort sei der Effekt zudem besonders stark, weil den Schließungen stagnierende Gründungen gegenüberstünden.
„Die Schließungen in der Industrie treffen den Kern unserer Volkswirtschaft“
Die Pleitewelle trifft aber auch den Handel: So haben der Auswertung zufolge im Jahr 2023 haben rund 37.000 Handelsunternehmen aufgegeben. Bei den konsumnahen Dienstleistungen waren es gut 51.000 Betriebe. Das sind deutlich mehr als 2018, im Vergleich zum Vorjahr ist der Trend aber immerhin leicht rückläufig.
„Verwaiste Ladenlokale und leere Schaufenster treffen die Menschen in ihrer Umgebung wirtschaftlich und auch emotional. Die Schließungen in der Industrie aber treffen den Kern unserer Volkswirtschaft“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. So stieg die Zahl der Schließungen im Baugewerbe von 2022 auf 2023 um 2,4 Prozent auf 20.000 Unternehmen – im verarbeitenden Gewerbe um 8,7 Prozent auf 11.000 Schließungen. Das ist der höchste Stand seit 2004.
Westeuropa: Immer mehr Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten
Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform wies schon zuvor daraufhin, dass immer mehr Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten geraten – auch bezogen auf Westeuropa. 169.496 meldeten demnach im Jahr 2023 Insolvenz an und damit knapp 21 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Zahlen übertrafen damit erstmals wieder das Niveau vor der Corona-Pandemie und lagen so hoch wie zuletzt 2016. „Das Insolvenzgeschehen im vergangenen Jahr stand im Zeichen der Rezession. Inflation, Zinsen, Energiekosten und auch die Nachwehen von Corona haben viele Unternehmen massiv belastet. Jetzt sehen wir die Auswirkungen auch deutlich in den Zahlen“, sagte Hantzsch dazu.
Besonders stark war der Anstieg in den Wirtschaftszweigen Handel (+24,8 Prozent) und Bau (+21,7 Prozent). Mit mehr als 68.000 Insolvenzen im Dienstleistungsgewerbe und gut 52.000 im Handel sei das Insolvenzgeschehen in Europa vorrangig von diesen beiden Wirtschaftssektoren geprägt, heißt es in der Studie. Vor allem die Konsumzurückhaltung infolge von gestiegenen Preisen und hohen Zinsen habe sich für die Unternehmen als Belastung erwiesen. In Deutschland stieg die Zahl der Insolvenzen um mehr als 20 Prozent. Außerordentlich groß war der Anstieg in den Niederlanden (plus 54,9 Prozent) und in Frankreich (plus 35,6 Prozent). Rückgänge gab es nur in Dänemark, Luxemburg, Spanien und Portugal.
Für 2024 prognostizierte Creditreform-Experte Hantzsch eine weitere Zunahme der Insolvenzen. Einen Ausblick auf die Entwicklung der kommenden Jahre liefere die Finanzkrise 2009. „Trotz wirtschaftlicher Erholung blieben die Zahlen damals für lange Zeit auf einem hohen Niveau.“ Mit Material der dpa