Wenigen fällt es auf
Bürgergeld-Berechtigte bekommen oft weniger als ihnen zusteht
- VonMax Schäferschließen
Empfänger von Bürgergeld bekommen oft nicht das, was ihnen zusteht. Ursache sind Fehler der Jobcenter. Nur wenige Betroffene wehren sich.
Frankfurt – Nach der Einführung des Bürgergelds und der Erhöhung zum Jahresbeginn 2024 steht die Sozialleistung unter Druck. Besonders die FDP sieht es als zu hoch an und fordert Kürzungen. Zuletzt hatte der liberale Fraktionschef Christian Dürr eine Senkung um bis zu 20 Euro gefordert. Begründung: Die Inflation sei zu hoch berechnet worden.
Am Vorschlag gibt es Kritik. „Das Bürgergeld wurde jahrelang zu wenig erhöht, daher war eine Erhöhung zum 01.01.2024 um 12 Prozent mehr als angemessen“, sagte etwa Rechtsanwalt Mohamed El-Zaatari. „Wenn der Gesetzgeber die Inflationsrate fehlerhaft eingeschätzt habe, so darf dies nicht zulasten von Millionen Bürgergeld-Bezieher*innen gehen.“ Zudem bestehe aufgrund der Regelbedarfe gesetzlich keine Möglichkeit. Das Thema werde lediglich auf Kosten der Empfängerinnen und Empfänger für Wahlkampfzwecke missbraucht, erklärte der Anwalt.
Bürgergeld-Bescheide häufig rechtswidrig: Betroffene bekommen häufig zu wenig
Im Gegenteil bekommen Bürgergeld-Berechtigte häufig nicht das, was ihnen eigentlich zusteht, erklärte El-Zaatari. „Generell können wir sagen, dass im Schnitt 50 Prozent der Bürgergeld-Bescheide rechtswidrig sind.“ Er berief sich dabei auf eine Auswertung seiner Verbraucherrechtskanzlei Rightmart, die nach eigenen Angaben 35.000 Fälle von Personen untersucht haben, die von der Einführung des Bürgergelds im Januar 2023 bis Juni 2024 ihre Bescheide bei der Kanzlei zur Prüfung eingereicht haben.
„In fast allen Fällen geht es um die Leistungshöhe“, sagte El-Zaatari auf IPPEN.MEDIA-Nachfrage. Die häufigsten Fehler treten demnach bei der Berechnung der Kosten der Unterkunft und Heizung auf. Auch die Einkommensanrechnungen würden fehlerhaft durchgeführt. „Entweder wird ein zu hohes Einkommen auf die Leistungen angerechnet oder es wird Einkommen berücksichtigt, obwohl kein Einkommen erzielt wird“, so der Anwalt.
Großteil der Widersprüche und Klagen werden beim Bürgergeld zurückgewiesen
Das Bild der Datenauswertung sei recht aussagekräftig, sagte El-Zaatari. Die Kanzlei machte zwar deutlich, dass es sich nicht um eine Auswertung alle Widersprüche gegen Bürgergeld-Bescheide handele, sondern lediglich um die bei Righmart eingegangenen Beschwerden. Wer selbst Widerspruch einlegt, blieb dabei unberücksichtigt. Die Daten „decken sich größtenteils mit unseren historischen Daten seit 2015 und mehreren hunderttausend Anfragen, die uns seitdem erreicht haben“, so der Anwalt. Das decke sich auch mit der Bundesstatistik.
Die offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit liegen zwar unter den Zahlen der Kanzlei. Auch dort offenbaren sich jedoch zahlreiche Fälle von erfolgreichen Widersprüchen. Die aktuellsten Zahlen aus dem Juli 2024 zeigen etwa, dass von etwa 37.100 Widersprüchen 32,5 Prozent komplett oder zumindest teilweise erfolgreich waren. Von 5072 erledigten Klagen waren die diese in knapp 24 Prozent der Fälle erfolgreich, bei etwa zwölf Prozent kam es zu einem Vergleich. 64 Prozent wurden abgewiesen oder die Betroffenen zogen diese zurück. Die Zahlen aus dem Juli decken sich weitgehend mit denen aus dem Vorjahr. 2023 wurden laut Arbeitsagentur zwei Drittel der Bürgergeld-Widersprüche zurückgewiesen. Klagen waren in etwa 35 Prozent der Fälle erfolgreich.
Warum Jobcenter Fehler bei Bürgergeld-Berechnung machen
Die Fehler bei den Bürgergeld-Bescheiden führt El-Zaatari auf Informationsdefizite zurück. „Eine hohe Fluktuation, Unterbesetzung und eine sich schnell wandelnde Rechtsprechung führen dazu, dass häufig von einer fehlerhaften Rechtslage ausgegangen wird“, sagte der Anwalt. „Auch die Einführung des Bürgergelds hat auf Seiten der Jobcenter zu rechtlicher Unsicherheit geführt, was sich auch in einer erhöhten Fehlerquote wiederfindet.“
Die Bundesagentur für Arbeit äußerte sich auf IPPEN.MEDIA-Anfrage nicht zu den Ursachen für die Fehler bei der Beurteilung von Bürgergeld-Anträgen. Man könne „keine statistischen Angaben“ machen, da diese Daten nicht erhoben werden, teilte eine Sprecherin mit.
Trotz fast einem Drittel erfolgreicher Widersprüche: Nur wenige Bürgergeld-Bezieher gehen gegen Bescheide vor
Trotz der großen Zahl an fehlerhaften Bürgergeld-Bescheiden legen laut nur wenige Betroffene Widerspruch ein oder wählen den Weg einer Klage, die nach einem abgelehnten Widerspruch möglich ist. Der Anteil der Bürgergeld-Beziehenden variiert laut Rightmart-Auswertung je nach Bundesland zwischen 0,5 Prozent (Sachsen) und 0,9 Prozent (Rheinland-Pfalz).
Fehlende oder schwer zugängliche Informationen zum Widerspruchsverfahren sowie der Glaube, dass staatliche Behörden bei der Beitragshöhe keine Fehler machen, seien der Grund, wieso sich vergleichbar wenige Menschen rechtliche Unterstützung suchen, erklärte El-Zaatari. „Außerdem befürchten viele Betroffene persönliche Nachteile.“ Die Widersprüche würden in der Regel bei der Person eingehen, die den Bescheid erlassen habe. „Wir haben bereits Fälle erlebt, in denen die Sachbearbeitung den Widerspruch als ‚Angriff‘ empfunden hat, daraufhin unseren Mandanten erbost anrief und zur Rücknahme des Widerspruchs riet“, sagte der Anwalt.
„Enorme Anzahl“ alleinerziehende Mütter beschwert sich über Bürgergeld-Bescheide
Zu fast 60 Prozent seien es Frauen, die sich an die Kanzlei wenden. „Eine enorme Anzahl der bei uns eingereichten Bescheide kommt von alleinerziehenden Müttern“, sagte El-Zaatari. „Für sie können hundert Euro mehr oder weniger den Ausschlag geben zwischen Existenzangst und temporärer Sicherheit.“
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