Dr. Lino Wehrheim ist assoziierter Wissenschaftler an der Universität Regensburg. Sein Buch „Im Olymp der Ökonomen“ wurde mit dem Friedrich-Lütge-Preis der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgezeichnet.
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Dr. Lino Wehrheim ist assoziierter Wissenschaftler an der Universität Regensburg. Sein Buch „Im Olymp der Ökonomen“ wurde mit dem Friedrich-Lütge-Preis der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgezeichnet.

Gastbeitrag Dr. Lino Wehrheim

60 Jahre Sachverständigenrat: Der zweite Frühling der Wirtschaftsweisen

Die wirtschaftspolitische Sachverständigenrat (SVR) feiert am Mittwoch sein 60-jähriges Bestehen. Pünktlich zum Jubiläum erlebt das einflussreiche Gremium ein Comeback - und die weiteren Perspektiven sind vielversprechend, meint der Wirtschaftshistoriker Dr. Lino Wehrheim, Autor eines Buchs über die Geschichte der Wirtschaftsweisen.

Regensburg - Mit 60 denken viele langsam an die Rente. Für die aktuellen Mitglieder des SVR – besser bekannt als die Fünf Wirtschaftsweisen – dürfte das wohl nicht gelten, allein schon, weil die meisten dieses Alter noch nicht erreicht haben. Der Rat als Institution feiert hingegen sein 60-jähriges Bestehen, und bis vor Kurzem konnte angesichts der öffentlichen Meinung über das Gremium der Eindruck entstehen, dass der SVR in der Tat reif für die Rente wäre. Doch nun erlebt er, wie so mancher Boomer, offenbar einen zweiten Frühling. Wie die historische Perspektive zeigt, liegt seine öffentliche Resonanz annähernd auf dem Niveau der Anfangsjahre, als der Rat viel Aufmerksamkeit und ein hohes Ansehen genoss.

Ab Mitte der 70er bildeten sich durch die Kritik des Gewerkschaftslagers zunehmend Risse im öffentlichen Bild, die Kritik blieb jedoch meist auf letzteres begrenzt. Das änderte sich in den 80ern, als der Rat eine Zeit der Fundamentalkritik durchlitt. Danach wurde es still um die Wirtschaftsweisen, der Rat vermochte kaum öffentliche Resonanz zu erzeugen. Mit dem Regierungswechsel 1998 ergab sich ein erstes Comeback, das bis etwa 2005 anhielt. Nach einer Phase erneut sinkender Medienpräsenz, die durch eine verbreitete Sichtweise des Rates als antiquiertem Fossil geprägt war, befindet er sich derzeit in einer erneuten Umbruchphase.

Stimme der Ökonomen

Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?

In unserer Reihe Stimme der Ökonomen liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.

Wirtschaftsweise: Gewandeltes Selbstverständnis?

Worauf lässt sich das aktuelle Comeback zurückführen? Eine naheliegende Erklärung liegt auf der Nachfrageseite: Pandemie, Ukraine-Krieg und eine gestiegene wirtschaftspolitische Unsicherheit haben den Bedarf an ökonomischer Expertise erhöht. Eine weitere könnte darin bestehen, dass sich offenbar das Selbstverständnis des Rates gewandelt hat.

Olaf Sievert, erster Generalsekretär und später Vorsitzender, erachtete den Rat noch als „unerbittlichen Rechnungshof“, „Neben-Opposition“ und „unentwegten Besserwisser“, die Mitglieder gar als „Weise, Mahner und Propheten“. Andere Ehemalige bezeichneten ihn als „ordnungspolitischen watch dog“ (Hans Karl Schneider) oder „ordnungspolitisches Gewissen“ (Lars Feld). Dieses Selbstbild einer quasi über den Dingen stehenden Mahn-und-Warn-Instanz zeigt sich besonders an einer Episode aus den 90ern, als sich der SVR dagegen sträubte, ein Sondergutachten zur Einführung der Pflegeversicherung anzufertigen, da man die Sorge hatte, so „in Auseinandersetzungen über politische Streitfragen hineingezogen“ (SG 1994) zu werden.

Dagegen scheinen sich die aktuellen Mitglieder eher als pragmatische Berater zu verstehen, die ihre Aufgabe weniger in ordnungspolitischer Belehrung, sondern mehr in der Unterstützung bei der Lösung konkreter Probleme sehen. Neben einer diverseren Besetzung (Frauenanteil, Internationalität) und einem modernen Kommunikationsstil hat sich der SVR damit im positiven Sinne dem Zeitgeist angepasst, was zuletzt nicht nur für Erregung in konservativen Kreisen sorgte (Stichwort: Energiesoli), sondern auch für das erste Jahresgutachten ohne Minderheitsvotum seit Langem. Dabei ist dieser eher pragmatische, politiknahe Stil nicht völlig neu, ähnliches lässt sich auch für die Zeit des ersten Comebacks um das Jahr 2000 und, mit Abstrichen, für die Anfangszeit feststellen.

Sachverständigenrat: Ausblick

Was ist für die nächsten Jahre zu erwarten? Der Beratungsbedarf dürfte durch die dringend notwendige Transformation der deutschen Gesellschaft und der damit verbundenen Verteilungskonflikte weiter zunehmen, sodass dem Rat die Arbeit wohl nicht ausgeht. Für diese scheint er gut aufgestellt. Da die Amtszeiten der Mitglieder noch länger laufen, ist eine gewisse Kontinuität zu erwarten. Innere Streitigkeit, wie sie den SVR häufig belasteten, werden so hoffentlich vermieden. Mit Ulrike Malmendier ist erstmals eine im Ausland ansässige Ökonomin Teil des Rates, was auf eine weitere Internationalisierung und Modernisierung hoffen lässt. Andere Reformvorschläge, wie die Verlagerung nach Berlin oder die Umwandlung in ein Council-Modell, werden seit Ewigkeiten diskutiert; dringender scheint mir die Frage nach der Ausgestaltung der Tätigkeit, um ein abschreckend hohes Arbeitspensum zu vermeiden.

Wirtschaftsweise: Ideologischen Scheindebatten Wind aus den Segeln nehmen

Ob der Rat häufiger als Institution auftreten sollte, ist angesichts der Konkurrenz im Beratungsgeschäft fraglich, zumal er über seine Mitglieder – gewollt oder ungewollt – ohnehin ganzjährig in Erscheinung tritt, sogar in zunehmendem Maße. Abgesehen von berechtigten Reformvorschlägen gilt es aber zu bedenken, dass der Rat seit jeher von allen Seiten instrumentalisiert wurde. Im Grunde folgt die Debatte um seine Arbeit immer wieder dem gleichen aufgeregten Muster. Der Rat hat dies offensichtlich unbeschadet überstanden. Wenn er weiterhin mit der Zeit geht, sich mit konkreten Vorschlägen in aktuelle Diskussion einbringt und ideologischen Scheindebatten den Wind aus den Segeln nimmt, kann er auch als „Best Ager“ den wirtschaftspolitischen Diskurs bereichern.

Zum Autor: Dr. Lino Wehrheim ist assoziierter Wissenschaftler an der Universität Regensburg, wo er 2020 mit einer Arbeit über den Sachverständigenrat promoviert wurde. Sein Buch „Im Olymp der Ökonomen“ (bei Mohr Siebeck) wurde mit dem Friedrich-Lütge-Preis der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ausgezeichnet.