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Bundeswehrplaner über Engpässe: „Man kann einen Kampfpanzer nicht im Baumarkt kaufen“
VonPeter Sieben
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Generalleutnant Gert Nultsch sagt: Putins Russland ist bald wieder angriffsbereit. Jetzt brauche es mehr Mittel und Soldaten im Heer.
Oslo/Berlin – Gert Nultsch sieht so aus, wie man sich vielleicht einen Generalleutnant der Bundeswehr vorstellt: Kantiges Kinn, kantiger Haarschnitt, kantiger Schnauzer und ein Blick, der ein bisschen streng wirkt. Dabei hat der Offizier einen durchaus freundlichen Sinn für Humor – das mit dem strengen Blick mag daran liegen, dass er sich Sorgen macht.
Nultsch ist Abteilungsleiter Planung im Bundesverteidigungsministerium. Sprich: Er muss im Blick haben, was die Bundeswehr braucht, um verteidigungsfähig zu sein. Aus Sicherheitskreisen ist seit Jahren zu hören, dass es bei den Streitkräften an allen Ecken und Enden fehle: Material, Soldaten. Nicht umsonst hat Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) jetzt die Debatte um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht wieder entfacht.
Derweil wird die Bedrohung Europas durch Putin größer, Russland stockt seine Kriegsreserven schneller wieder auf, als gedacht und wird bald wieder angriffsfähig sein, da sind sich Beobachter sicher. „Viele dachten, der Weckruf sei der Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 gewesen“, sagte Nultsch jüngst in einer Rede vor hochrangigen Militärs und Wirtschaftsvertretern beim „German-Norwegian Defence Industry Seminar“, zu dem die deutsch-norwegische Handelskammer in Oslo geladen hatte. „Dabei war der Weckruf schon 2014. Es hat eine Weile gedauert, bis man aufgewacht ist.“
Woran das liegt, und wofür die elf Milliarden Euro aus dem Sondervermögen der Bundesregierung ausgegeben werden, erklärt der oberste Planer des Heers im Im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.
Herr Nultsch, Sie sagen selbst: Der Weckruf war nicht der Beginn des Ukraine-Kriegs vor zwei Jahren, sondern bereits die Krim-Annexion 2014. Warum ist so wenig passiert in der Zwischenzeit?
Die Frage ist, wie stark ein Signal sein muss, damit es durchdringt und die Gesellschaft die Bedrohung ernst nimmt. Tatsächlich arbeiten wir seit 2014 an einem gesteigerten Etat. Wir haben durchweg das haushaltsnahe Jahr angehoben, der Etat ist aber in den Folgejahren abgesackt. Ein längerfristige „Planungssicherheit“ ist damit jedoch nicht gelungen. Wir sind auf Sicht gefahren.
Ihr neuer Chef heißt Boris Pistorius. Sind Sie zufrieden?
Ich kann aus persönlichem Erleben und aus Überzeugung sagen, dass dieser Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Boris Pistorius kämpft bärenstark, so einen Einsatz habe ich selten gesehen. Das ist unglaublich beeindruckend und gibt uns Kraft.
Allerdings knirscht es gerade zwischen ihm und Finanzminister Christian Lindner. Pistorius will elf Milliarden Euro für die neue Litauen-Brigade. Zu teuer, sagt Lindner. Wie ist das zu bewerten?
Zunächst einmal zu den Zahlen: Wir sprechen von Investitionen im Bereich von sechs bis neun Milliarden, plus etwas weniger als eine Milliarde für den laufenden Betrieb. Die Summe ergibt sich aber nur dann, wenn man das komplette Material für die Truppen, also etwa 100.000 Artikel, neu kaufen würde. Einen Teil davon haben wir aber schon vorrätig, die Truppenteile bringen ihr Material ja mit. Somit wird die Zahl laufend aktualisiert.
Pistorius entfacht Debatte um Wehrpflicht neu: „Staatsbürger in Uniform ist größter Mehrwert“
Trotzdem kommt man immerhin noch auf rund sieben bis zehn Milliarden Euro extra, oder?
Wir ziehen Beschaffungen zeitlich nach vorne. Das Panzerbataillon der Litauen-Brigade etwa soll mit Leopard-2-Panzern ausgestattet werden, Ausgaben dafür waren für die 2030er Jahre sowieso eingeplant. Wir tätigen also jetzt aktuell notwendige Ausgaben, die uns irgendwann später dafür wieder entlasten. Das sieht man so natürlich im aktuellen Finanzplan nicht auf den ersten Blick, weil die Verteilung als solche nicht sofort erkennbar wird.
Boris Pistorius hat die Debatte um die Wehrpflicht neu angestoßen. Braucht es eine Wehrpflicht in Deutschland?
Ich wurde am 1. Juli 1981 als Grundwehrdienstleistender zum Wehrdienst eingezogen. Die sicherheitspolitische Situation war durch den NATO-Doppelbeschluss geprägt. Wie Sie sehen, bin ich immer noch aktiver Soldat. Daraus können sie meine Position zu einer Art der Pflicht ableiten. Inwieweit heute zeitgemäße Formen besser greifen, dazu hat sich der Minister geäußert. Eine Wehrpflicht wie im Jahr 1981 können wir kurzfristig nicht realisieren, aber wir gehen einen ersten Schritt. Der größte Mehrwert einer Wehrpflicht war für mich immer der Staatsbürger in Uniform, die Verankerung der Wehrfähigkeit in der Gesellschaft. Modern ausgedrückt: Wer Multi-Domain-Operation als gesamtstaatliche Verteidigungsarchitektur versteht, kommt um diese Diskussion nicht herum.
Mit der Zeitenwende-Rede hat Kanzler Olaf Scholz ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr verankert. Kann man so viel Geld überhaupt sinnvoll investieren?
Eindeutig: Ja. Aber die Industrie muss die Investitionen auch technisch sauber umsetzen. Lassen sie mich der Frage nach der Sinnhaftigkeit von einer anderen Seite nähern. Ein Beispiel aus der Kommunalpolitik: Vorsorge-Ausgaben für Feuerwehrfahrzeuge in einem Jahresplan zu berücksichtigen, mag dem ein oder anderen übertrieben erscheinen und man spart lieber. Wenn es dann aber richtig brennt, wünscht man sich, man hätte anders entschieden. So verhält es sich auch mit der Verteidigung. Wir haben die sogenannte Friedensdividende eingefahren und uns auf Internationales Krisenmanagement konzentriert. Der Ukraine-Krieg zeigt aber, wie schnell die Sicherheitslage in Europa kippen kann. Daher ist die Zeitenwende auch eine Rückkehr zur Hauptaufgabe Landes- und Bündnisverteidigung.
Sondervermögen für die Bundeswehr: „Es stehen kaum noch Produktionskapazitäten zur Verfügung“
Kann denn in absehbarer Zeit überhaupt das produziert werden, was die Bundeswehr aktuell benötigt und mit dem Geld kaufen könnte?
Nein, und auch das ist eine Kehrseite der Friedensdividende. Es stehen kaum noch Produktionskapazitäten zur Verfügung, die kurzfristig hochgefahren werden können. Ein Großteil der Bestellungen aus dem Sondervermögen wird die Truppe erst in der nächsten Legislatur erreichen. Man kann eben nicht mal schnell einen Kampfpanzer im Baumarkt kaufen. Wir müssen warten, bis er tatsächlich produziert ist. Das dauert. Wenn ein Land zum Beispiel vor einem Jahr Leopard-2-Panzer bestellt hat, reiht sich die Bestellung irgendwo in der Produktionskette ein. Wenn man sich die Jahreszahlen anschaut, ab denen ausgeliefert wird, stellt man fest: Wir haben in Deutschland aus einer Volumenindustrie einen Manufakturbereich gemacht.
Industriepark Raufoss: Wo Spezialmunition für die Ukraine und Autoteile produziert werden
Beobachter sagen, dass Russland seine Kriegsressourcen bald wieder aufgefüllt haben wird. Wie sehr besorgt Sie das?
Das besorgt mich sehr. Wir gehen davon aus, dass eine erste Rekonstitution Russlands und damit eine Angriffsfähigkeit 2029 hergestellt sein kann. Dabei spielt auch Munition eine große Rolle.
Aus europäischen Munitionsfabriken hört man, dass es angesichts des Ukraine-Kriegs Jahrzehnte dauern könnte, bis die Nato-Reserven wieder aufgefüllt sind. Wie kann man das auffangen?
Das muss man relativieren. Die Ukraine ist sehr effizient, was den Materialeinsatz betrifft. Man muss nicht für jeden Fall ein teures Artilleriegeschoss nehmen, sondern kann zum Beispiel eine billige Drohne nehmen und eine Granate oder ein IED, also einen einfachen Sprengsatz, in einen offenen Turm fallen lassen. Aber in der Tat werden die Mittel knapp. Deshalb hat unser Minister auch entschieden, dass wir über die von der Nato geforderte Bevorratung hinaus in eine nationale Bevorratung treten, um resilient zu werden. Mit dem Spatenstich der Rheinmetall-Munitionsfabrik in Unterlüß wurde ein erster Schritt gemacht. In Europa ist diese Fabrik dann übrigens die zweite Produktionsstätte neben der Kooperationsgemeinschaft der Munitionshersteller Diehl und Nammo. Bis wir alle Vorräte wieder dort haben, wo sie sein sollen, wird es aber dauern.