Schwieriger Partner des Westens
Polit-Thriller mit geopolitischen Folgen: Kanada wirft Indien Mord an Sikh-Aktivisten in Vancouver vor
VonChristiane Kühlschließen
Der Westen umwirbt das demokratische Indien als Gegengewicht zur Großmacht China. Doch nun wirft Kanada der Regierung Modi vor, dass es dort einen Sikh-Aktivisten ermorden ließ. Die Lage ist kompliziert.
Der Mord an dem Sikh-Aktivisten Hardeep Singh Nijjar ist ein Fall, der an die Mafia oder an Schurkenstaaten denken lässt: Mindestens sechs Personen und zwei Autos waren am 18. Juni an dem Attentat auf Nijjar vor einer Gebetsstätte der indischen Sikh-Religionsgemeinschaft in einem Vorort Vancouvers beteiligt. Als der 45-jährige Nijjar, Kanadier indischer Herkunft, seinen Pickup vom Parkplatz der Gebetsstätte steuerte, blockierte ihm ein weißer Wagen den Weg. Zwei maskierte Männer in Kapuzenpullovern stürzten auf sein Auto zu und schossen. Nach Zeugenaussagen feuerten sie rund 50 Patronen ab, 34 davon trafen Nijjar. Die Schützen rannten davon und stiegen in einer Sackgasse in ein wartendes, silberfarbenes Auto. Ein Video dieses Mordes wurde der US-Zeitung Washington Post zugespielt. Es zeigt ein kaltblütig geplantes Verbrechen.
Warum der Mord sich nun zum realen Polit-Thriller mit geopolitischen Folgen auswachsen könnte, zeigte sich aber erst Wochen später. Am vergangenen Montag überraschte Kanadas Premierminister Justin Trudeau die Welt mit einem explosiven Vorwurf: Indien habe den Mord an Nijjar in Auftrag gegeben, dafür gebe es „glaubwürdige Beweise“. Trudeau bezeichnete die Vorwürfe als „äußerst schwerwiegend“ und warnte, das Völkerrecht sehe „weitreichende Konsequenzen“ vor. Der Hinweis auf eine mutmaßliche Verbindung der indischen Regierung zu dem Mord stammt den USA zufolge von westlichen Geheimdiensten. Es war ein Schock: ausgerechnet das demokratisch regierte Indien, das der Westen derzeit als Gegengewicht zum autoritären China umwirbt!
Sikhs in Indien: Blutiger Kampf für die Unabhängigkeit
Neu-Delhi wies die Vorwürfe Trudeaus sofort als „absurd“ zurück. Es folgten gegenseitige Ausweisungen von Diplomaten und Anti-Indien-Proteste in kanadischen Städten. Damit hat der Mord nun eine handfeste diplomatische Krise ausgelöst.
Doch worum geht es dabei überhaupt? Längst vergessen von der Weltgemeinschaft, kämpften Aktivisten der Sikh-Religion von den 1970-ern bis in die frühen 1990-er Jahre für einen eigenen Staat namens Khalistan im indischen Bundesstaat Punjab. Und das auch mit Gewalt: Zehntausende starben während des Aufstandes im Punjab. 1984 wurde die damalige indische Premierministerin Indira Gandhi von ihren Sikh-Leibwächtern ermordet, denn sie hatte zuvor eine Razzia im heiligsten Schrein des Sikhismus angeordnet, in dem sich bewaffnete Separatisten versteckten. Hunderte starben dabei. 1985 zerfetzte eine Bombe ein Flugzeug der Air India auf dem Weg von Montreal to Mumbai. Alle 329 Insassen starben, die meisten von ihnen Kanadier. Die Khalistan-Bewegung ist in Indien bis heute verboten.
Der Sikhismus war im 15. Jahrhundert als Reformreligion entstanden, deren Stifter Guru Nanak Dev das indische Kastenwesen sowie einige hinduistische Rituale und Traditionen ablehnte. Allmählich entwickelte sich der Glaube zu einer eigenständigen monotheistischen Religion. Sikhs schneiden sich ihr Leben lang die Haare nicht, weil sie ihren Körper als Teil der göttlichen Schöpfung sehen; Männer und auch manche Frauen wickeln ihre Haare unter einem farbenprächtigen Turban auf. Mit heute rund 25 Millionen Mitgliedern sind sie im bevölkerungsreichsten Land der Welt Indien eine winzige Minderheit.
Sikh-Diaspora: Mehrere ungeklärte Todesfälle
Kanada ist heute Heimat der größten Sikh-Exilgemeinde, mit 770.000 Menschen. Der Aktivismus dieser großen Sikh-Diaspora sorgt seit Jahren für Spannungen zwischen Indien und Kanada. Nijjar war Anführer der Separatistenorganisation Khalistan Tiger Force, führte die Gebetsstätte, an der er starb – und wird in Indien seit langem als Terrorist gesucht. Die Separatistenbewegung soll derzeit wieder aufleben – vor allem in der Diaspora, in Ländern mit großen Sikh-Gemeinschaften wie eben Kanada, Großbritannien, den USA oder Australien. Dort habe die Sympathie für ein unabhängiges Khalistan insbesondere im Internet zugenommen, berichtete der britische Guardian.
Und der Fall Nijjar beginnt längst, weitere Kreise zu ziehen. So wirft er ein Schlaglicht auf andere Todesfälle und Drohungen in der Sikh-Aktivisten-Szene im Ausland. Mindestens drei Sikhs aus der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland sind laut Guardian wenige Monate vor Nijjars Tod unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen, zwei in Pakistan, einer in Großbritannien. Einer der beiden kurz vor Nijjars Tod in Pakistan erschossener Sikhs soll Morde in Indien begangen und Trainingscamps für militante Khalistan-Kämpfer organisiert haben. Das FBI warnte nach dem Mord mindestens drei Amerikaner aus der Sikh-Gemeinschaft, dass ihr Leben in Gefahr sei.
Indien: Schwieriger und unbekannter Partner des Westens
Noch gilt die Unschuldsvermutung. Trotzdem zeigen die Fälle, was für ein schwieriger Partner Indien für den Westen ist. Und zugleich, wie wenig wir dieses Land eigentlich kennen. Unter Premierminister Narendra Modi will Indien zur Großmacht aufsteigen und ist die vielfältige Gesellschaft und Demokratie unter Druck; viele seiner Maßnahmen fördern einen Zentralstaat unter Führung der Hindu-Mehrheit – und Modis nationalistischer Bharatiya Janata-Partei. US-Außenminister Antony Blinken forderte Indien nach Trudeaus Rede auf, mit Kanada zusammenzuarbeiten und eine „Rechenschaftspflicht“ für die Ermordung des Sikh-Separatisten sicherzustellen.
Der Westen sieht Indien vor allem als Gegengewicht zu China – aber weiß wenig über indische Politik und Geschichte. „Die meisten westlichen Kommentare scheinen die gewalttätige Geschichte der Khalistan-Bewegung nicht zu kennen. Manche sehen sie eher als soziale als eine separatistische Bewegung“, sagt Tanvi Madan, Expertin für Indien und China bei der US-Denkfabrik Brookings Institution. Man sehe in Indien zudem nicht ein, „warum der Westen unterscheide zwischen Mordanschlägen in westlichen Staaten und ähnlichen Tötungen außerhalb des Westens“, so Madan auf X. Schließlich behielten sich ja auch die USA oder Israel vor, als gefährlich empfundene Terroristen im Ausland zu töten. Es ist wieder einmal der Vorwurf der Doppelmoral. Zugleich aber übersehe Indien die neuen Sorgen im Westen hinsichtlich der Überwachung der chinesischen Diaspora durch Peking, meint Madan. „Manche sehen die Vorwürfe gegen Indien durch diese Perspektive.“ Es bleibt kompliziert.
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