Nach Solingen und München
„Aktiver und selbstbewusster“: Neue Generation von radikalen Salafisten ist dem Staat einen Schritt voraus
VonPeter Siebenschließen
Eine neue Generation von Salafisten treibt die Radikalisierung extrem schnell voran – und baut abseits großer Städte extremistische Zentren auf.
Berlin – Sie heißen El Azzazi oder Asanov: bärtige junge Männer, die ihren Zuschauern in kurzen Clips erklären, warum „der Westen gottlos“ ist. Salafistische Hassprediger haben neue Wege gefunden, um junge Menschen noch schneller zu radikalisieren. Die Folgen: Die Gefahr, dass Einzeltäter immer öfter terroristische Taten wie zuletzt in Solingen oder in München begehen, steigt.
Anschlag von Solingen und Islamismus-Vorfall in München: „Neue Generation von Salafisten“
„Man kann definitiv von einer neuen Generation von radikalen Salafisten, sprechen“, sagt Mahmoud Jaraba im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich am Forschungszentrum für Islam und Recht in Erlangen mit Salafismus und Radikalisierung. Und er beobachtet: Die neue Generation unterscheidet sich deutlich von früheren Strömungen, sowohl in ihrer Vorgehensweise als auch in ihrer Ideologie. Vor allem seit dem Nahost-Krieg in Folge des Hamas-Anschlags auf Israel vom 7. Oktober 2023 setzten die Hassprediger auf Emotionalisierung: „Die Narrative der ‚westlichen Unterdrückung‘ und die Krisen in islamischen Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan und Palästina bieten diesen Gruppen eine starke emotionale Grundlage, um neue Anhänger zu gewinnen“, erklärt Jaraba.
Die Radikalen bedienen sich der Techniken von Influencern, sind digital hoch versiert und nutzen soziale Medien, um Anhänger zu rekrutieren und radikales Gedankengut zu normalisieren. Die Hinterhofmoscheen von einst spielen keine so große Rolle mehr, wenngleich lokale radikale Salafisten-Gruppen nach wie vor auch in Moscheen aktiv seien. Ein bewusster und gesteuerter Prozess, erklärt Experte Jaraba: „Sowohl die lokale Präsenz als auch die Nutzung sozialer Medien spielen eine wesentliche Rolle im Radikalisierungsprozess. Es handelt sich nicht um ein Entweder-oder, sondern um eine Ergänzung, bei der traditionelle und digitale Methoden ineinandergreifen.“
Radikale Salafisten haben „erheblichen Vorteil im Vergleich zu staatlichen Maßnahmen“
Die neuen Salafisten seien überaus agil – und staatlichen Behörden oft einen Schritt voraus. „Sie arbeiten kontinuierlich daran, staatliche Kontrollen zu umgehen“, sagt Mahmoud Jaraba. „In vielen Fällen würde ich sagen, dass sie sogar deutlich aktiver und selbstbewusster in ihrer Arbeit sind als die staatlichen Bemühungen zur Prävention und Bekämpfung dieses Phänomens.“ Ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gebe den radikalen Salafisten „einen erheblichen Vorteil im Vergleich zu den oft langsameren staatlichen Maßnahmen“, konstatiert der Experte.
Derweil beobachtet die Polizei, dass extremistische Salafisten nicht mehr nur in Großstädten wie Berlin, Bremen, Köln oder im Ruhrgebiet aktiv sind, sondern zunehmend auch in eher ländlichen Regionen, zum Beispiel in Ostwestfalen-Lippe oder in Gebieten bei Aachen. Dort seien die Prediger gut vernetzt mit radikalen salafistischen Gruppen in Belgien und den Niederlanden. „Diese Entwicklung ist in vielen Bundesländern zu beobachten“, sagt Jaraba. Es sei falsch, Radikalisierung ausschließlich als ein Problem großer Städte oder bestimmter Stadtzentren zu betrachten.
Radikale Salafisten ködern junge Menschen über TikTok und Istagram
Über Plattformen wie TikTok, Telegram oder Instagram könnten die Salafisten ihre Zielgruppen erreichen – meist unter dem Radar von Sicherheitsbehörden. Das mache es den radikalen Gruppen noch leichter, ihre Netzwerke auch außerhalb des digitalen Raums in ländlichen Regionen aufzubauen. „Dort sind sie häufig weniger kontrolliert und überwacht als in größeren Städten, wo die Sicherheitsbehörden bestimmte Moscheen stärker im Fokus haben. So können sie gerade in ländlichen Gebieten relativ ungestört Strukturen etablieren, was das Extremismuspotenzial dort weiter verstärkt“, so Jaraba.
Doch warum springen manche Menschen überhaupt auf die Radikalisierungsversuche an? Es gebe verschiedene Gründe, warum sich junge Männer radikal-salafistisch radikalisieren, erklärt Jaraba. „Manche erleben soziale Marginalisierung, Diskriminierung oder wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, was Gefühle von Wut, Frustration und Orientierungslosigkeit hervorrufen kann.“ In solchen Situationen könne der radikale Salafismus als eine Art Zufluchtsort erscheinen, der Struktur, Bedeutung und einen Sinn im Leben bietet.
„Darüber hinaus spielen die anhaltenden Kriege und tiefen Krisen in verschiedenen islamischen Ländern eine zentrale Rolle“, sagt der Experte. „Die jungen Männer sehen die Zerstörung und das Leid in Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan und Palästina und sind oft der Meinung, dass die einzige Möglichkeit, die Situation zu ändern, durch Gewalt und militanten Widerstand besteht.“
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