Israel-Krieg
Trotz technischer Überlegenheit und „eiserner Mauer“: Wie konnte die Hamas Israel so überraschen?
- VonBettina Menzelschließen
Der Geheimdienst Israels zählt zu den besten der Welt. Trotzdem gelang der Hamas ein Überraschungsangriff, der Israels Image der Unbesiegbarkeit erschütterte.
Gaza/Tel Aviv – Der überraschende Hamas-Terrorangriff auf Israel war das schlimmste Blutbad in der Geschichte des Landes. Weshalb hatten die international als führend geltende israelischen Geheimdienste die Bedrohung nicht kommen sehen? Die genauen Gründe sind noch unklar, doch Informationen von Experten, Augenzeugenberichte und Überwachungsvideos liefern erste Erklärungsansätze.
Überwachungsvideo zeigt ersten Hamas-Kampftrupp bei Ausschaltung der Überwachung
Das erste Ziel der Hamas-Terroristen am Samstagmorgen waren offenbar die Überwachungssysteme, Kameras, Wachposten. Kommerzielle Drohnen warfen teils Sprengstoff über den Wachtürmen ab. Auch zehn bewaffnete Kämpfer der Hamas, die in einem von der New York Times verifizierten Video zu sehen sind, hatten wohl die Mission, die Kommunikation und das Überwachungssystem lahmzulegen, um Israels Militär „erblinden“ zu lassen. So wollte die Hamas verhindern, dass israelische Soldaten Hilferufe senden, Verstärkung anfordern und andere Standpunkte warnen. Die zehn Hamas-Kämpfer waren wohl unter den ersten, die über die Grenze kamen und wussten offenbar genau, wo sich das Überwachungszentrum der israelischen Armee im Süden Israels befand – und wo der Eingang war.
Nachdem die zehn Hamas-Kräfte am Samstagmorgen den als „eiserne Mauer“ bekannten Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen in wenigen Momenten durchbrochen hatten, fuhren sie zur Militärbasis, sprengten den Eingang, gelangten aufs Gelände und hatten dann sogar die Zeit, ein Selfie zu schießen. Kurz darauf erschossen die Hamas-Terroristen einen unbewaffneten Soldaten. Wenige Momente später zeigt das Video, wie der Kommandeur der Truppe eine detaillierte und in verschiedenen Farben gestaltete Karte aus seiner Tasche zieht. All das zeigt die Helmkamera des Befehlshabers des Terrorkommandos, der später im Kampf fiel, wodurch das Videomaterial in israelische Hände gelangte.
Hamas-Angriff lange geplant: Diese Details kannte die Terrororganisation
Überwachungsvideos und Augenzeugenberichte von israelischen Sicherheitskräften zeigen: Die Hamas war nicht nur gut vorbereitet, sie wusste offenbar im Detail, wie das israelische Militär operiert, wo sich die Überwachungszentren befanden, wie viele Soldaten wo stationiert waren, über wie viele Fahrzeuge sie verfügten und sogar, wie lange es dauern würde, bis israelische Verstärkung eintraf, wie die New York Times unter Verweis auf israelische Sicherheitskräfte berichtete. Woher die Terrororganisation die Informationen hatte, ist bislang unklar.
Israelische Rettungskräfte fanden ein detailliertes Planungsdokument der Hamas., das die Einteilung der Kämpfer in verschiedene Einheiten und Funktionen zeigt: Navigatoren, Fahrer, Saboteure. Ebenso waren offenbar konkrete Schlachtpläne und spezifische Ziele aufgeführt, die aus einem bestimmten Winkel angegriffen werden sollten. Das Dokument war laut New York Times auf Oktober 2022 datiert. Mindestens so lange liefen offenbar die Vorbereitungen der Terrororganisation. Womöglich schon deutlich länger.
Bilder zeigen, wie der Krieg in Israel das Land verändert




Hochrangiger Minister Israels: „Wir haben uns mit Blödsinn beschäftigt“
Am Donnerstag übernahm erstmals ein Minister der Regierung Benjamin Netanjahus Mitverantwortung. „Wir sind die Regierung zu dem Zeitpunkt, als es passiert ist. Wir sind verantwortlich“, sagte Bildungsminister Joav Kisch am Donnerstag im israelischen Fernsehen. Auch die Armee sei verantwortlich. „Wir haben uns mit Blödsinn beschäftigt“, so der Minister weiter. Man habe sich zu sehr auf das Westjordanland und die Hisbollah fokussiert, heißt es auch vonseiten einiger Experten. Das habe zu einer zu dünnen Präsenz im Süden des Landes geführt. Israelische Verantwortliche hätten Sicherheitskräfte im Westjordanland konzentriert und sich zu sehr auf technische Mittel wie den Grenzzaun verlassen, sagte etwa Audrey Kurth Cronin, Leiterin des Carnegie Mellon Institut gegenüber dem Spiegel.
Die Hamas ließ die Israelis glauben, sie sei „mit der Regierung des Gazastreifens beschäftigt“, bestätigte Ali Barakeh, ein Hamas-Führer, am Montag in einem Fernsehinterview. „Die ganze Zeit über bereitete sich die Hamas unter dem Tisch auf diesen großen Angriff vor.“ Man habe die Hamas als kriegsmüde verkauft. „Die Hamas hat Israel den Eindruck vermittelt, dass sie auf einen Kampf nicht vorbereitet ist“, sagte eine der Hamas nahestehende Quelle der Nachrichtenagentur Reuters. Doch tatsächlich habe die Terrororganisation die Kämpfer der Gruppe ausgebildet und trainiert, oft in aller Öffentlichkeit. Israel habe sich etwas vom Gazastreifen abgewandt, als es eine Normalisierung der Beziehung zu Saudi-Arabien erwirken wollte, hieß es von anderer Seite.
Grenze zwischen Israel und Hamas: „Eiserne Mauer“ fiel binnen weniger Momente
Oberstes Ziel der Hamas war offenbar, ein Durchsickern der Informationen zu vermeiden. Selbst Hamas-Führer wussten teils nichts von den Plänen, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Die rund 1.000 Kämpfer, die an dem Angriff teilnahmen, hatten noch während des Trainings keine Ahnung vom genauen Zweck der Übungen, so die Nachrichtenagentur unter Bezugnahme auf eine Hamas-nahe Quelle. Der Angriff war demnach im Detail koordiniert. Zunächst schoss die Hamas rund 3.000 Raketen ab, gleichzeitig flogen Kämpfer mit motorisierten Gleitschirmen über die Grenze, um das Gelände zu sichern.
Im Anschluss stürmte ein Elitekommando den Grenzzaun mit Sprengstoff und Bulldozern, dann fielen die Terroristen mit Motorrädern und Pick-Ups in Israel ein. Dass dies möglich sein könnte, schien bis dahin undenkbar. Denn die Grenze zwischen Israel ist ein Bollwerk: Zwei sechs Meter hohe Metallzäune mit Stacheldraht sind mit Kameras, Radargeräten und Sensoren versehen. In Wachtürmen befinden sich ferngesteuerte Maschinengewehre, Verstärkungstrupps stehen auf Abruf bereit. Zudem reicht eine Metallverstärkung weit in den Boden hinein, um die Invasion über Tunnelsysteme zu vermeiden.
„Bevor die Israelis 2005 Gaza verließen, setzten sie auf menschliche Quellen und darauf, die Hamas mit Agenten zu infiltrieren“, so die Sicherheitsexpertin Audrey Kurth Cronin zum Spiegel. Später habe man zunehmend auf elektronische Mittel gesetzt: Gesichtserkennung, Datenbanken, den Iron Dome, die Grenzanlage. „Das sind zwar nützliche Werkzeuge, aber sie verließen sich zu sehr darauf.“
Hamas-Angriffe in Israel: „Großes Versagen des Geheimdienstes und Militärapparats“
Die Hamas tötete zudem mehrere Offiziere der Gaza-Division, die alle am gleichen Ort versammelt waren, wie die New York Times berichtete. Das israelische Militär war demnach nicht nur in weiten Teilen blind und unvorbereitet, sondern teils ohne Führung. Der Hamas-Angriff stelle „ein großes Versagen des Geheimdienstsystems und des Militärapparats im Süden“ dar, sagte der ehemalige General Yaakov Amidror, früher als nationaler Sicherheitsberater von Premierminister Netanjahu tätig, am Sonntag vor Reportern. Was genau am Samstag, dem 7. Oktober passierte, wird das Land genau untersuchen. Allerdings wohl erst nach dem Krieg in Israel. Jetzt sei nicht die Zeit, um sich damit zu beschäftigen, sagte der israelische Bildungsminister Joav Kisch. „Jetzt müssen wir uns auf den Sieg konzentrieren.“