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Historiker nach Wilders-Wahl: „Das Bild der toleranten, liberalen Niederlande ist ein Mythos“
VonKilian Beck
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Niederlande-Experte Friso Wielenga bezweifelt im Interview die Stabilität eine Regierung des Rechtspopulisten Geert Wilders. Und er erklärt, was das für die EU bedeuten könnte.
Den Haag – Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders gewann am Mittwoch (22. November) die Parlamentswahl in den Niederlanden. Ob ihn das zum Regierungschef macht, und was das für die Niederländische Demokratie bedeutet, erklärte Historiker Friso Wielenga in Gespräch mit fr.de von IPPEN.MEDIA am Donnerstag (23. November). Er erklärt, was man in Deutschland aus dem Wahlergebnis lernen kann, und warum das Bild der Deutschen von den Niederländern nicht ganz stimmt.
Wie steht es nach den Wahlen um die den Niederlanden häufig zugeschriebene Liberalität?
Das Bild der liberalen und toleranten Niederlande ist inzwischen ein Mythos, den wir gerne im Ausland immer wieder gezeigt, und auch selbst geglaubt haben. Angesichts solcher Wahlergebnisse wie dem vom Mittwoch, muss man aber feststellen: Die Niederlande sind längst in einer Welt angekommen, die gar nicht mehr so liberal und tolerant ist.
Wieso hat Geert Wilders dieses Wahlergebnis erzielt, das trotzdem keiner so erwartet hatte?
Obwohl Geert Wilders zuletzt steigende Umfragewerte hatte, ist das Wahlergebnis ein historisches Erdbeben, dass niemand erwartet hatte. Das Vertrauen in die Politik in den Niederlanden hat einen absoluten Tiefstand erreicht und viele sind der Meinung, „Die da oben hören schon längst nicht mehr auf uns“. Es gibt sehr viele, die sich sowohl politisch als auch sozial abgehängt fühlen.
Außerdem gab es viel Kritik an der Migrationspolitik der vergangenen Jahre. Hinzu kommt, dass viele ihre Existenzsicherheit als bedroht empfinden: Inflation, steigende Mieten und das Gesundheitssystem waren auch wichtige Punkte. Das sind alles Faktoren, die den Rechtspopulisten und somit auch Wilders Rückenwind geben.
Wie gingen die Konservativen mit Wilders im Wahlkampf um?
Die Chefin der konservativen VVD, Dilan Yesilgöz, das ist die Partei von Ministerpräsident Mark Rutte, hat im Wahlkampf die Tür zu PVV geöffnet. Seit 2014 war es so, dass man eine Zusammenarbeit mit Wilders ausgeschlossen hat. Es sei denn, er würde seine Standpunkte bezüglich des Islam korrigieren. Yesilgöz zeigte sich jedoch offener und war bereits ohne eine derartige Kehrtwende im Prinzip zur Zusammenarbeit mit Wilders bereit. Das hat Wilders clever aufgegriffen, indem er sich im Wahlkampf sehr gemäßigt gezeigt hat. Er hat gesagt, die Anti-Islam-Haltung gehöre zu seinen Genen, aber es gebe jetzt wichtigere Sachen und die wolle er mit anderen Parteien nun gemeinsam lösen.
Nach Wahlsieg von Wilders: Unter den niederländischen Muslimen geht die Angst um
Welche Folgen hätte eine Regierung Wilders für die Menschen in den Niederlanden, die nicht in Geert Wilders Weltbild passen?
Sehr viele Muslime und auch traditionelle Sozialdemokraten, Grüne oder Linksliberale, haben das Gefühl, die Wahl war ein politisches Erdbeben, das dazu führt, dass unser Rechtsstaat und unsere liberale Demokratie angetastet werden könnten. Am Wahlabend sah sich Frans Timmermanns, der die gemeinsame Liste von Sozialdemokraten und Grünen anführte, gezwungen, zu sagen, dass er und das Bündnis der beiden Parteien für den Rechtstaat kämpfen werden. Der Parteiführer der linksliberalen D66 Rob Jetten tat das Gleiche.
Unter Muslimen gibt es breit gestreut Angst vor Wilders, da er in der Vergangenheit immer gesagt hat, er möchte islamische Schulen schließen, er möchte Moscheen schließen. Auch wenn er jetzt milder erscheint und meint, er lege diese Forderungen in den Kühlschrank, es bleiben seine Standpunkte.
Kann Wilders seine radikalen Standpunkte durchsetzen?
Ob konkrete Maßnahmen kommen, ist natürlich noch unklar. Aber wenn Wilders von „Niederländer an erster Stelle“ spricht, meint er nicht die Muslime. Und viele Muslime sind natürlich auch Niederländer und gut integriert. Sie sind aber nicht das, was er sich Wilders unter Niederländern vorstellt.
Es werden schwierige, polarisierte Zeiten und potenziell auch turbulente Zeiten. Auch wenn, Wilders jetzt sagt, er würde seine Anti-Islam-Haltung zur Seite schieben. Irgendwann muss er seinen Wählern diesbezüglich auch etwas liefern.
Welche Rolle spielen denn die Sozialdemokraten unter Ex-EU-Kommissar Frans Timmermans und die Grünen?
Man muss schon feststellen, das linke Spektrum in den Niederlanden ist sehr, sehr dünn geworden. Insgesamt kommen Sozialdemokraten, Grüne, Linksliberale und noch drei linken Splitterparteien bloß auf knapp 30 Prozent. In Umfragen wollen nur etwa 22 % der Befragten eine linke Regierung, während 39 Prozent sich eine rechte Regierung wünschen. Die Stimmung ist deutlich nach rechts verschoben. Auch mit dem sehr bekannten Frans Timmermanns an der Spitze haben es die Sozialdemokraten gemeinsam mit den Grünen nicht geschafft, das umzukehren.
Gibt es eine mögliche Mehrheit gegen Wilders und würde sie genutzt werden?
Strukturell sind die Mehrheiten rechts. Für eine Regierung gegen Wilders und die PVV bräuchte es ein Bündnis aus konservativen VVD und der neuen Partei „Neuer Gesellschaftsvertrag“ (NSC) sowie den Sozialdemokraten und Grünen auf der Linken. Das wäre wieder eine Regierung, die Schwierigkeiten hätte Kompromisse zu finden. Die wäre dann, wie die aktuelle Regierung, der Kritik ausgesetzt, nichts voranzubringen. Stattdessen würde sich Linke und Rechte in der Mitte sehr zerfetzen. Wenn man die größte Partei im Parlament ausschließt, ist das natürlich auch eine Bestätigung für die populistische Erzählung, dass die etablierten Parteien „die Stimme des Volkes“ nicht hören wollen.
Wie gingen die Niederlande ihrer Geschichte mit sozialen Bewegungen und Protestparteien um?
In den Niederlanden gibt es die Tradition, Protestbewegungen zu integrieren. Das war in den 1960und 1970er Jahren schon so mit den damaligen neuen sozialen Bewegungen. Vor 21 Jahren wurde die Partei der kurz vor den Wahlen ermordeten Rechtspopulisten Pim Fortuyn (LPF) in die Regierung des Christdemokraten Jan Peter Balkenende aufgenommen. Dieses Mal dürfte das aber schon schwieriger werden, da Wilders‘ PVV stärkste Kraft geworden ist.
Die Initiative zur Regierungsbildung liegt nun auf jeden Fall bei Wilders, da sind sich alle einig.
Wie wahrscheinlich schätzen Sie es ein, dass Wilders jetzt Regierungschef wird?
Das ist noch sicherlich keine ausgemachte Sache. Die Regierungsbildung wird sowieso sehr schwierig, denn die PVV von Geert Wilders will aus der EU, will aus der NATO, will Migration Null, will keine militärische finanzielle Unterstützung der Ukraine. Das sind keine Standpunkte, die mehrheitsfähig sind. Es wird also schwierig, eine Regierung zu bilden, auch wenn VVD und NSC und Bauer- und Bürgerbewegung schon Offenheit signalisierten haben, mit Wilders ins Gespräch zu gehen. Sie taten das unter der Prämisse, dass Wilders seine verfassungswidrigen Forderungen zurückstellt. Die Initiative zur Regierungsbildung liegt nun auf jeden Fall bei Wilders, da sind sich alle einig.
Haben die zwei anderen konservativen Parteien schon rote Linien für eine etwaige Koalition mit Wilders formuliert?
Nein, so weit ist es noch nicht. Aber ich kann mir vorstellen, dass zunächst einmal das Thema ‚Nexit‘ vom Tisch sein wird. Auch bin ich mir sicher, dass Wilders‘ Wunsch eines Austritts der Niederlande aus der NATO nicht verhandlungsfähig ist.
Geert Wilders könnte am Personal und der zweiten Parlamentskammer scheitern
Hätte Wilders das Personal, um Ministerposten zu besetzen?
Ich sehe da eigentlich keine Personen, die neben ihm eine politische Rolle spielen könnten. Auch bei Unterstützern außerhalb der PVV sind noch keine Namen von Personen bekannt, die Ämter übernehmen könnten. Unklar ist auch, wie stabil die PVV im Parlament sein wird. Wilders hat keine richtige Partei, er ist das einzige Mitglied. Wenn er ins Kabinett geht, wird er potenziell Probleme bekommen, die 37 Parlamentsabgeordneten auf einer Linie zu halten. Deswegen ist es zu erwarten, dass in dieser Fraktion Unruhe geben wird.
Neben der zweiten Kammer, die am Mittwoch gewählt wurde, gibt es im niederländischen Parlament noch ein Oberhaus. Hätte eine PVV-geführte Regierung dort eine Mehrheit?
Viele Regierungen hatten in der Vergangenheit keine Mehrheit im Oberhaus. Das bedeutete, dass Kabinette oft mit Oppositionsparteien verhandeln mussten, um eine Mehrheit für ihre Gesetze zu bekommen. Mark Rutte hat das immer geschickt gemacht. Selbst eine Viererkoalition aus PVV, VVD, NSC und Bauer- und Bürger-Bewegung (BBB) hätte dort keine Mehrheit, sondern lediglich 30 von 75 Sitzen. Ohne die BBB wären es nur 14 Sitze und so spricht vieles dafür, dass die BBB als Regierungspartei gewünscht wird. , da es ohne sie im Oberhaus noch schwieriger werden wird.
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai warnte, ein solches Wahlergebnis sei das Ergebnis von zu lascher Migrationspolitik. Hat er recht, und ist das ein Signal für Deutschland?
Aus den Umfragen wissen wir, dass Migration für 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler eine sehr wichtige Rolle spielte. Die Unzufriedenheit über die aktuelle Migrationspolitik ist schon ein Signal, wenn wir an die Wahlen im nächsten Jahr in den ostdeutschen Ländern denken. Gleichzeitig möchte ich die Bedeutung dieses Themas für den Wahlausgang in den Niederlanden nicht überbewerten, denn wie bereits gesagt, waren sozial-wirtschaftliche Themen nicht weniger wichtig.
Was würde eine Regierung unter Geert Wilders und der PVV auf europäischer Ebene bedeuten?
Es ist sicherlich denkbar, dass die PVV die Hacken in den Sand setzt und sagt: Wenn das so entschieden wird in Brüssel, dann machen wir nicht mit. Und wenn die Niederlande dort mitmachen, dann ist damit die Regierung zu Ende. Wenn die PVV tatsächlich eine Regierungspartei wird oder wenn sie wirklich den Ministerpräsidenten stellen sollte, dann bedeutet das, dass die Niederlande von ihrer europragmatischen Politik, die sie in den letzten Jahren geführt haben, eher zu einer sehr stark euroskeptischen Politik übergehen werden, ohne dass sie direkt aus der EU austreten.