Freiluftgefängnis
Tausende junge Menschen wollen Türkei verlassen – doch die EU blockt ab
VonErkan Pehlivanschließen
Immer mehr Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage die Türkei verlassen. Doch es wird schwerer, ein Visum für Europa zu erhalten.
Ankara – Die anhaltende Wirtschaftskrise und schlechte Menschenrechtslage in der Türkei veranlassen immer mehr Menschen, ihr Land zu verlassen. Vor allem junge Menschen sehen kaum noch Perspektiven. Nach Angaben des staatlichen Statistikinstituts TÜIK liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 19,1 Prozent.
Kunstschaffende aus der Türkei bekommen keine Visa für Konzerte in Deutschland
Verschiedene türkische Quellen berichten davon, dass es gerade nach der Türkei-Wahl für die Menschen in der Türkei schwieriger geworden ist, Visa für europäische Staaten zu bekommen. Auch Kunstschaffende haben es schwer, in den sogenannten Schengenraum zu reisen, um dort etwa Konzerte zu geben. Dazu zählen auch Onur Akın, Volkan Konak und Erkan Ogur. Grund dafür soll der unkontrollierte Zuzug von Geflüchteten sein, von denen viele jetzt die türkische Staatsbürgerschaft erhalten haben sollen.
„Wir, die wir in der ganzen Welt Konzerte geben, können nicht einmal ein Visum für Europa bekommen, da eine unbekannte Anzahl von Personen, die in die Türkei einreisen, die Staatsbürgerschaft erhalten hat. Unsere Anträge wurden zwei Mal von Deutschland abgelehnt. Deshalb haben wir unser Konzert in Deutschland im Mai abgesagt“, schreibt Volkan Konak über Twitter an seine Fans.
Ähnlich sieht es die Oppositionspartei CHP. „Unsere Bürger, die ins Ausland reisen wollen, um Geschäfte zu machen, sich weiterzubilden oder sich behandeln zu lassen, sind besorgt“, schreibt der CHP-Abgeordnete Tahsin Tarhan auf Twitter. „Sie warten monatelang auf die Beantragung eines Visums und die Zahl der Ablehnungen nimmt ständig zu. Der Anstieg der Zahl der Migranten und Asylbewerber in der Türkei ist der Hauptgrund für das Visaproblem“, so Tarhan, der auch für die Auslandsorganisationen seiner Partei zuständig ist.
Auch der Botschafter der EU in der Türkei, Nikolaus Meyer-Landrut, scheint das zu bestätigen. Auf die Frage des Journalisten Ismail Saymaz von der Zeitung Sözcü, ob die europäischen Staaten bei der Visa-Vergabe für Türken noch wählerischer geworden seien, weil sie Befürchtungen hätten, die könnten Asyl beantragen, antwortete Meyer-Landrut mit „noch vorsichtiger“ – offenbar, weil viele danach Asyl in den europäischen Staaten beantragen würden.
Besonders junge Menschen wollen die Türkei verlassen
„Gut ausgebildete junge Menschen fliehen vor Unterdrückung in die Freiheit und arbeiten für das Geld, das ihnen zusteht. Deswegen besorgen sie sich ein Visum und beantragen danach Asyl“, schreibt Saymaz. Aus demokratischer Sicht sei das die Folge der AKP-Regierung, die die Türkei in ein Freiluftgefängnis verwandelt habe und das Land in Armut versetzt habe. Erasmus-Studierende hätten nach Ablauf ihrer Zeit Asylanträge gestellt. Eine erst jüngst veröffentlichte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat herausgefunden, dass 63 Prozent der jungen Menschen das Land verlassen wollten – die meisten von ihnen gaben als Wunsch sogar Deutschland an.
Mayer-Landrut sagt in seinem Interview mit Saymaz, dass es mit der Türkei eine Road-Map gebe, um Visafreiheit zu ermöglichen. „Es gibt 72 Kapitel“, sagt Mayer Landrut. Eines davon sei die Definition von Terrorismus. „In der Türkei ist die Definition von Terrorismus sehr umfangreich. Es muss klarer definiert werden. Die türkischen Verantwortlichen wissen, dass sie keine der Standards umgesetzt haben.“ Wenn man in einem Umfeld von Unterdrückung Visafreiheit gewähre, würde man jedem, der unglücklich sei oder sich nicht frei fühle, ermöglichen, das Land zu verlassen.
Präsident Recep Tayyip Erdogan sieht die von den türkischen Medien so bezeichnete „Visa-Krise“ als Komplott gegen seine Regierung. „Wir werden das Visaproblem, das in der letzten Zeit als politische Erpressung missbraucht wurde, hoffentlich so bald wie möglich lösen“, versprach Erdogan nach der Türkei-Wahl.
Türkei rutscht in verschiedenen Ranglisten zu Menschenrechten ab
Im aktuellen Rechtsstaatlichkeitsindex der Nichtregierungsorganisation „World Justice Project“ liegt das Land inzwischen auf Platz 116 unter 140 Ländern. Im sogenannten „Demokratiematrix“ der Universität Würzburg kommt die Türkei auf Platt 132 unter 177 Ländern und ist damit in der Kategorie der „moderaten Autokratien“. Auch für Medien ist es in dem Land noch schwieriger geworden. Die Türkei liegt im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen nur noch auf Platz 165 unter 180 Staaten. (Erkan Pehlivan)
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