„Wichtige Teile der ISIS-Propaganda umgedreht“

Russland und Ukraine wandeln auf Spuren der Terrormiliz IS

  • Nadja Orth
    VonNadja Orth
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Die Ukraine und Russland veröffentlichen im Krieg immer wieder dramatische Videos. Diese Propaganda-Technik geht auf die Terrormiliz IS zurück.

Kiew/Frankfurt - Seit über einem Jahr liefern sich Moskau und Kiew blutige Kämpfe in der Ukraine - und die ganze Welt schaut gebannt zu. Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich. Beide Länder veröffentlichen regelmäßig Drohnenaufnahmen von Explosionen oder statten Soldaten mit GoPro-Kameras aus, um die Menschen direkt mit zum Geschehen an die Front zu holen. Nichts davon ist willkürlich, sagen nun Experten. Es sei eine Strategie, die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bereits seit Jahren erfolgreich angewandt wird.

Russland und Ukraine veröffentlichen immer wieder Kriegsvideos - was steckt dahinter?

Am 10. Mai veröffentlichte der Sicherheitsdienst der Ukraine ein Video auf Facebook, das mehrere militärische Erfolge der Spezialeinheit „Weiße Wölfe“ zeigt. Die hautnahen Einblicke und dramatische Klänge ziehen einen schnell in den Bann. Aus der Vogelperspektive sind Kampfdrohnen zu sehen, die auf russische Ziele am Boden zu schnellen. Rauchwolken steigen auf, als sie auf Militärfahrzeuge einschlagen und explodieren. Die Videos sind schwarz-weiß, im Hintergrund ertönt elektronische Musik mit tiefen Bässen. Das Video zeigt echte Szenen. Trotzdem wirkt es durch die Aufbereitung fast wie ein Computer-Spiel.

Der Clip sei nur ein Beispiel von vielen derartigen Videos, die im Ukraine-Krieg gedreht wurden und „ein großartiges Beispiel für die Gamifizierung von Kampfvideos und die seltsame qualitative Überschneidung zwischen Videospielen und realem Filmmaterial“ darstellen, sagt Sean Heuston, Professor für Propaganda, gegenüber dem US-Nachrichtenportal Newsweek. Auch Russland hält seine militärischen Erfolge in ähnlicher Weise auf Kamera fest. Aus dem Umfeld von Russlands Präsident Wladimir Putin taucht aber zusätzlich noch weitaus extremeres Filmmaterial auf: so zum Beispiel die grausame Enthauptung eines Kriegsgefangenen durch Wagner-Soldaten.

Ukraine-Krieg: Propaganda-Videos ähneln mehr „Actionfilmen“ - eine Technik der Terrormiliz IS

Dass die Ukraine und Russland jeweils Kampf-Videos von der Front veröffentlichen, sei laut Heuston Teil einer großen Strategie. Er bezeichnet sie auch als Propaganda-Videos, die mehr „Actionfilmen ähneln“ und „dramatische Konflikte in den Vordergrund“ stellen. Dadurch sei es wahrscheinlicher, dass sie im Internet angeklickt und angeschaut werden.

Aufnahme vom 5. März: Ein ukrainischer Kämpfer im Donbass steuert eine Drohne.

Die Länder würden mit ihren Kriegsvideos aber unterschiedliche Ziele verfolgen. Heuston vermutet, dass Russland neue Rekruten anwerben möchte, während die Ukraine dem Ausland seine Erfolge präsentieren will und dadurch auf mehr finanzielle und militärische Unterstützung hofft. Dafür müsse der Krieg im Westen präsent bleiben und Blicke auf sich ziehen.

Russland und die Ukraine wandeln auf den Spuren der Terrormiliz IS

Dass Russland und die Ukraine Kriegsvideos veröffentlichen, ist längst keine neue Technik. Sie ist im Grunde viel mehr auf Terror-Milizen wie den IS zurückzuführen. Durch grausame Videos - wie zum Beispiel öffentlichen Hinrichtungen - erlangten sie in den Medien einst große Aufmerksamkeit und ziehen so seit etwa zehn Jahren die Blicke auf sich. Die Professorin Moran Yarchi ist Leiterin des Fachgebiets „Digitaler Einfluss und Wahrnehmung“ an der Sammy Ofer Schule für Kommunikation. In einem Artikel für die Wissenschaftszeitung Communication and the Public schrieb sie:

Ukraine-Krieg reicht jetzt bis nach Moskau: Fotos zeigen den Schaden durch Drohnen-Angriffe

Mehrere Wohngebäude werden geringfügig beschädigt, zwei Menschen leicht verletzt.
Am frühen Dienstagmorgen meldete die russische Hauptstadt verschiedene Drohnenangriffe. © IMAGO/Vitaly Smolnikov/Tass
Russlands Verteidigungsministerium machte die Ukraine dafür verantwortlich und spricht von „Terror“. Die Führung in Kiew weist die Beschuldigungen zurück.
Russlands Verteidigungsministerium machte die Ukraine dafür verantwortlich und spricht von „Terror“. Die Führung in Kiew weist die Beschuldigungen zurück. © IMAGO/Vitaly Smolnikov/Tass
Mitarbeiter des Rettungsdienstes nach einem gemeldeten Drohnenangriff in Moskau, Russland, vor einem Wohnblock.
Mitarbeiter des Rettungsdienstes nach einem gemeldeten Drohnenangriff in Moskau, Russland, vor einem Wohnblock. © IMAGO/Aleksey Nikolskyi/SNA
„Heute Morgen hat das Kiewer Regime einen Terrorakt mit unbemannten Flugkörpern auf Objekte der Stadt Moskau verübt“, hieß es vom russischen Militär.
„Heute Morgen hat das Kiewer Regime einen Terrorakt mit unbemannten Flugkörpern auf Objekte der Stadt Moskau verübt“, hieß es vom russischen Militär.  © IMAGO/Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua
Verteidigungsminister Sergej Schoigu lobte die eigene Flugabwehr. Insgesamt seien acht Drohnen zerstört worden.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu lobte die eigene Flugabwehr. Insgesamt seien acht Drohnen zerstört worden. © Tass/IMAGO/Vitaly Smolnikov
Nach den Drohnen-Angriffen sperrten Sicherheitskräfte die Gegend ab.
Nach den Drohnen-Angriffen sperrten Sicherheitskräfte die Gegend ab. © IMAGO/Denis Bocharov
In sozialen Netzwerken hingegen vermuten viele, dass in Wirklichkeit viel mehr der kleinen Apparate - die optisch etwas wie Mini-Flugzeuge aussehen - auf Moskau zuflogen.
In sozialen Netzwerken hingegen vermuten viele, dass in Wirklichkeit viel mehr der kleinen Apparate - die optisch etwas wie Mini-Flugzeuge aussehen - auf Moskau zuflogen. © IMAGO/Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua
Seit Wochen schon häufen sich Attacken auch in Russland - meist jedoch in der unmittelbaren Grenzregion zur Ukraine und nicht auf zivile Objekte.
Seit Wochen schon häufen sich Attacken auch in Russland - meist jedoch in der unmittelbaren Grenzregion zur Ukraine und nicht auf zivile Objekte.  © IMAGO/Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua
Es war aber nicht das erste Mal seit Beginn des Kriegs vor mehr als 15 Monaten, dass Drohnen bis in die Hauptstadt flogen.
Es war aber nicht das erste Mal seit Beginn des Kriegs vor mehr als 15 Monaten, dass Drohnen bis in die Hauptstadt flogen. © IMAGO/Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua
Erst Anfang Mai wurden zwei Flugkörper unmittelbar über dem Kreml abgefangen. Das brachte spektakuläre Bilder.
Erst Anfang Mai wurden zwei Flugkörper unmittelbar über dem Kreml abgefangen. Das brachte spektakuläre Bilder. © IMAGO/Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua
Damals wurde aus Sicht der Moskauer aber nicht das Dach des eigenen Gebäudes getroffen, sondern der Amtssitz von Präsident Wladimir Putin - und der war zum besagten Zeitpunkt nicht zuhause.
Damals wurde aus Sicht der Moskauer aber nicht das Dach des eigenen Gebäudes getroffen, sondern der Amtssitz von Präsident Wladimir Putin - und der war zum besagten Zeitpunkt nicht zuhause. © IMAGO/Alexander Zemlianichenko Jr/Xinhua
Nun aber ist die Verunsicherung in der Riesenmetropole mit mehr als 13 Millionen Einwohnern groß. Die sozialen Netzwerke quellen über.
Nun aber ist die Verunsicherung in der Riesenmetropole mit mehr als 13 Millionen Einwohnern groß. Die sozialen Netzwerke quellen über. © IMAGO/Vitaly Smolnikov/Tass

„Die Medien spielen in heutigen Konflikten eine entscheidende Rolle, da neben der militärischen Konfrontation auch ein Imagekrieg stattfindet. Der Islamische Staat im Irak und al-Scham (ISIS) ist ein Paradebeispiel für die Verwendung von Bildern als Teil seiner Kampfstrategie und nutzt verschiedene Plattformen, um sein Narrativ zu vermitteln.“

Die Macht der Medien: Ukraine nutzt Propaganda-Videos - mit entscheidendem Unterschied zur IS

Bereits der IS nutzte laut Yarchi somit die Macht der Medien, um seine Handlungen einerseits religiös zu rechtfertigen und über die sozialen Netzwerke möglichst viele neue, meist junge Menschen zu rekrutieren. Andererseits sollen mit den Videos Feinde bedroht und abgeschreckt werden.

„Ich denke, die Ukraine hat das verstanden und die wichtigen Teile der ISIS-Propaganda umgedreht, während sie sie von den moralisch schrecklichen oder moralisch abstoßenden Teilen von ISIS trennt“, so Heuston weiter zu Newsweek über die allgemeine Taktik. Russland würde die Strategie zwar auch anwenden, aber weitaus weniger effektiv. Er vermutet, dass Putin zum einen keinen Grund darin sieht, ein international akzeptables Bild abzugeben. Zum anderen könnten vor allem bei grausamen Videos die Risiken dem Nutzen überwiegen, neue Soldaten zu rekrutieren. (nz)

Rubriklistenbild: © Aris Messinis/AFP