Überraschende Maßnahme
Echte Zeitenwende im NATO-Land Norwegen: „Mehr Menschen sollen mit Waffen in Berührung kommen“
VonPeter Siebenschließen
Norwegen investiert so viel in Verteidigung wie nie, Experten sprechen von einer Zeitenwende. Zwei konkrete Pläne betreffen auch Deutschland.
Oslo – In Oslo liegt immer alles gleich um die Ecke. Vom Verteidigungsministerium an der Myntgata 1 sind es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zur Festung Akershus, die über dem Fjord thront. Hinter den dicken Mauern liegt die Hochschule für Verteidigung (FHS) der norwegischen Streitkräfte. Hier werden angehende Offiziere ausgebildet. Uralte Kanonen, die noch immer aufs Meer gerichtet sind, dienen heute als Deko – bekommen in diesen Tagen aber eine besonders aktuelle Symbolkraft: Denn das NATO-Land Norwegen gibt sich nach einer historischen Entscheidung wehrhaft wie nie.
NATO-Ziel erreicht: Norwegen geht historischen Schritt
Unten im Verteidigungsministerium waren sie wohl selbst ein wenig überrascht davon, sagt Professor Robin Allers vom Institut für Verteidigungsstudien an der FHS. Bis 2036 will die Regierung 600 Milliarden Kronen mehr für die Verteidigung ausgeben, das entspricht über 50 Milliarden Euro. Das NATO-Zwei-Prozentziel, das eigentlich erst für 2026 angepeilt war, ist damit schon jetzt erreicht.
„Dass der Staat tatsächlich in diesem Umfang investiert, hätte ich auch nicht unbedingt gedacht“, so Allers. Noch letztes Jahr hatte eine Kommission vergleichsweise bescheiden vorgeschlagen, die Verteidigungsausgaben über einen Zeitraum von zehn Jahren um 140 Milliarden Kronen zu erhöhen. „Damals hat es oft geheißen: Das bekommt ihr nie hin“, erzählt der Verteidigungsexperte, der von einer „echten Zeitenwende“ spricht.
Sicherheitslage durch Ukraine-Krieg so angespannt wie lange nicht: „Krieg wird noch eine Weile dauern“
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat alles verändert, die Sicherheitslage ist angespannt wie lange nicht. Und Norwegen, das eine fast 200 Kilometer lange Landgrenze mit Russland teilt und weitere Berührungspunkte unter anderem in der Barentssee hat, ist gefährlich nah dran am Geschehen, „Man hat erkannt: Die Lage ist deutlich ernster geworden. Der Krieg wird noch eine Weile dauern.“ Darauf will man in Norwegen vorbereitet sein.
Gemeinsame U-Boot-Produktion: Enge Zusammenarbeit mit Deutschland
Ein zentraler Aspekt wird die maritime Aufrüstung sein. Die Regierung will fünf Fregatten und weitere Schiffe bestellen, außerdem Hubschrauber für die Seeüberwachung aus der Luft. Dabei wird das Land auch mit Deutschland eng zusammenarbeiten. Zuletzt erst war der Startschuss für ein gemeinsames U-Boot-Projekt gefallen, das von TKMS in Kiel gebaut wird. „Daraus ergeben sich weitere Gegengeschäfte“, erklärt Michael Kern, Managing Director der deutsch-norwegischen Handelskammer AHK. Neben der Energiewirtschaft entwickle sich aktuell eine ganz neue Zusammenarbeit zwischen den Ländern auch in der Rüstungsindustrie.
Der Fokus aufs Wasser hängt auch mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO zusammen. Denn dadurch ergeben sich völlig neue strategische Verteidigungsstrategien, erklärt FHS-Professor Robin Allers: „Norwegen wird auch seinen Teil dazu beitragen müssen, den Ostseeraum zu sichern.“ Bislang war Norwegen das Land der NATO-Nordflanke. Künftig wird das Land mit den beiden Nachbarn eine Art nordische Einheit bilden. „Durch das neue Hinterland ist Norwegen jetzt zu einem noch wichtigeren Verteilungs-HUB für alliierte Verstärkungen in Richtung Norden und Osten“, so Allers.
Streitkräfte von NATO-Land sollen deutlich verstärkt werden: „Mehr Menschen sollen mit Waffen in Berührung kommen“
Auch die Mannstärke will Norwegen deutlich erhöhen, die Streitkräfte sollen um mehr als 20.000 Soldaten erweitert werden. Heißt auch: Wesentlich mehr junge Menschen werden bald zum Wehrdienst eingezogen. Aktuell sind es etwa 9.000, künftig sollen pro Jahrgang 13.500 den zwölfmonatigen Dienst antreten. „Das ist einerseits ein Signal, andererseits sollen mehr Menschen wieder mit Waffen in Berührung kommen und im Verteidigungsfall in der Lage sein, damit umzugehen“, so Allers.
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Überdies brauche das Militär schlichtweg mehr Personal. Anders als in vielen anderen Ländern werden Wehrdienstleistende in Norwegen aktiv eingesetzt, zum Beispiel zur Grenzsicherung im Norden an der Grenze zu Russland oder in der königlichen Garde.„Allerdings reicht es nicht, nur einfach mehr Rekruten zu haben. Man bräuchte vor allem Menschen, die sich längerfristig für die Streitkräfte entscheiden“, sagt der Verteidigungsexperte. Deshalb werden bald auch deutlich mehr Offiziere ausgebildet und die Anzahl an Reservisten erhöht. „Fähige Mitarbeiter zu halten, ist derzeit schwierig. Das hängt auch mit den vergleichsweise niedrigen Rentenansprüchen zusammen. Viele gehen lieber in die freie Wirtschaft“, erklärt Allers.
Sorge vor möglicher Trump-Regierung: „Ausgaben in Verteidigung herunterzuschrauben, war ein Fehler“
Ein wichtiger Anstoß für Norwegens Zeitenwende ist auch die Entwicklung in den USA. Europäische Verteidigungsexperten warnen immer wieder davor, dass Europa zu abhängig von amerikanischer Unterstützung ist. Wenn die plötzlich wegfällt, hätte der Kontinent ein gewaltiges Problem. Schon die aktuelle US-Regierung hat deutlich gemacht, dass sie sich mehr Einsatz der Mitglieder wünsche. Falls Donald Trump je wieder an die Macht kommen sollte, würde der Ton deutlich rauer. Trump hatte erst vor einigen Monaten mit der Aussage für Aufsehen gesorgt, die USA würden säumige Mitglieder im Stich lassen.
„Die Sorge vor einer möglichen Trump-Administration spielt durchaus eine Rolle in Norwegen“, sagt Robin Allers. Gerade aktuell, im Jubiläumsjahr des Verteidigungsbündnisses, das seit 75 Jahren besteht. Im Sommer steht ein Gipfel in Washington an – und man will zeigen: Wir leisten unseren Beitrag. „Was man in Norwegen und in ganz Europa gelernt hat, ist: Die Ausgaben in die Verteidigung herunterzuschrauben, sobald ein vermeintlicher Frieden herrscht, ist ein Fehler. Das wird sicher nicht nochmal passieren.“
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