36.000 beschädigte Häuser
Neue Karte zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung im Gazastreifen
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Sok Eng Lim
Marie Ries
Philipp David Pries
Die Folgen des Nahost-Konflikts im Gazastreifen zeigen jetzt neue Karten. Täglich sterben Menschen in diesem von der Terrorgruppe Hamas ausgelösten Krieg.
Gaza-Stadt – Rauchsäulen, Krater und zerstörte Gebäude: Seit Beginn des Kriegs in Israel gehen fast jeden Tag ähnliche Bilder um die Welt. Das Ausmaß der Schäden im Gazastreifen wird nun greifbar durch neue Karten. Demzufolge ist bereits jetzt deutlich mehr als jedes zehnte Haus beschädigt oder sogar zerstört. Oft ist dies die Folge von israelischen Operationen, die nach dem Terrorangriff der Hamas Anfang Oktober und ihrer Stellungen galten. Diese forderten jedoch zugleich zivile Opfer.
Unsere Karte zeigt im Norden mit Abstand die meisten beschädigten Gebäude. Dies passt zu der Absicht der israelischen Armee, der Hamas den Nährboden in ihren Hochburgen zu entziehen. Zuvor hatte die Armee die Zivilbevölkerung zur Flucht in den Süden und damit südlich des Besor-Flusses aufgerufen. Hunderttausende Menschen leben jedoch bis heute in der umkämpften Region unter äußerst schwierigen Bedingungen.
Wie groß sind die tatsächlichen Schäden? Das lassen die neuen Satellitendaten von Vertical52 zumindest erahnen. Das Datenjournalismus-Team von IPPEN.MEDIA hat dafür unter anderem die aufwändigen Analysen für diesen Artikel ausgewertet und aufbereitet. Diese können naturgemäß nicht unterscheiden zwischen Angriffen vom Boden und aus der Luft. Ebenso gab es Fälle, in denen auch Hamas-Raketen im Gazastreifen einschlugen. Doch selbst nach zurückhaltender Bewertung gelten seit Kriegsbeginn 36.000 Häuser als beschädigt oder zerstört.
Karten verdeutlichen die Schäden in Gaza-Stadt und im Flüchtlingslager
Als ein Schwerpunkt zeigt sich die stark von Hochhäusern geprägte Stadt Gaza. Nach Einschätzung des Nahost-Experten René Wildangel im IPPEN.MEDIA-Gespräch ist Gaza-Stadt in bisherigen Kriegen bei weitem nicht so schwer getroffen worden wie in den vergangenen Wochen. Wildangel hat selbst mehrere Jahre in Palästina gelebt und leitete das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah.
Ein Blick auf das Flüchtlingslager Dschabalia nördlich von Gaza-Stadt macht die Lage vor Ort noch einmal greifbarer. Dschabalia ist laut UN mit insgesamt 120.000 Menschen einer der am dichtesten besiedelten Flecken der Welt. Hier lebten vor dem Krieg pro Quadratkilometer 20 Mal mehr Menschen als in München. Jüngst schlug dort eine Rakete in eine Schule ein, in der tausende Flüchtlinge untergebracht gewesen sein sollen. Augenzeugen sprechen von vielen Toten. Unsere Karte zeigt insgesamt eine Vielzahl an Schäden allein im Flüchtlingslager. Raketen trafen dabei Wohnhäuser genauso wie Gebäudekomplexe – und auch kritische Infrastruktur wie Abwasserleitungen.
Der Terrororganisation Hamas wird vorgeworfen, im gesamten Gazastreifen Zivilisten und geschützte Gebäude wie Krankenhäuser, Moscheen und Schulen als Verstecke zu missbrauchen. Zu dieser Einschätzung kommt unter anderem der amerikanische Häuserkampf-Experte John Spencer. Die israelische Armee spricht von Waffenlagern und Abschussrampen. Gleichzeitig leben in Gaza immer noch Hunderttausende Zivilisten. Nicht alle können oder wollen fliehen.
Unsere Karte zeigt auch viele Schäden im Süden, in den die Menschen eigentlich nach dem Aufruf der israelischen Armee Mitte Oktober fliehen sollten. Wie erklären sich die dortigen Angriffe? Die BBC zitiert einen israelischen Armeesprecher mit seiner Sicht auf die Dinge: “Wir werden weiter terroristische Ziele in sämtlichen Teilen des Gazastreifens angreifen.”
Grundsätzlich teilen viele Experten die Einschätzung, dass sich Israels Umgang mit der Zivilbevölkerung von der vieler Armeen unterscheidet. Davon spricht auch Militärexperte Spencer in einem Spiegel-Interview. Er kommt zu dem Schluss, dass „die israelische Armee eine der weltweit führenden Armeen bei der Beachtung von Rechtsvorschriften und sogenannten ‚best practices‘ für den Schutz von Zivilisten ist“. Dies gelte auch für die israelische Bodenoffensive, deren mögliche Folgen sich in unseren Karten noch nicht widerspiegeln konnte.
Der notwendige Wiederaufbau im Gazastreifen ist eigentlich ein Neuaufbau
Unsere Karten deuten darauf hin, was für eine gigantische Herausforderung mit Kriegsende auf die Region wartet. Nahost-Experte Wildangel bezeichnet die Situation auch angesichts der vielen zerstörten Häusern als „so noch nicht dagewesen und mit der Lage vorher in keiner Weise zu vergleichen.“ Umso skeptischer blickt er auf die Szenarien für die Zeit nach dem Krieg: „Wir reden jetzt eigentlich von einem notwendigen kompletten Neuaufbau.“ Und noch viel ungewisser bleibt die Frage, wie ein friedliches Miteinander oder zumindest Nebeneinander der Menschen in Israel und in Palästina jemals wieder möglich werden kann.
Unsere Daten, Quellen und Methoden
Die in unseren Karten gezeigten Schäden und Zerstörungen basieren auf Radarwellen-Analysen von Vertical52. Verwendet wurden Daten des Satelliten Sentinel-1, der am 5. Oktober – und damit vor Kriegsbeginn – sowie am 5. November den Gazastreifen überflog. Aus den von Gebäuden zurückgeworfenen Wellen ließen sich in der Folge verschiedene Grade von Beschädigungen feststellen – von moderat bis schwer. In Verbindung mit den Grundrissdaten des Microsoft Buildings Footprint lässt sich die Anzahl betroffener Häuser bestimmen.
Weitere Daten und Informationen in diesem Artikel stammen vom United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA), dem Institute for the Studies of War (ISW), der Open Street Map (OSM), dem israelischen Militär (IDF) sowie dem Gesundheitsministerium in Gaza. Wie bei jeder Berichterstattung zu Kriegsereignissen müssen wir uns in Einzelfällen auf Angaben nicht-unabhängiger Stimmen wie einzelner Ministerien stützen. In diesem Falle ordnen wir jede Aussage und ihren Kontext ein oder belegen diese durch weitere Quellen.
Rubriklistenbild: © Montage / Bruckmann / Litzka / Bashar TALEB.



