Nach Islamisten-Protest
Einfach erklärt: Was ist ein Kalifat?
VonAlexandra Heidsiekschließen
Von Islamisten hört man ihn immer wieder, zuletzt auf einer Demo in Hamburg: der Ruf nach dem Kalifat. Was genau man darunter versteht, wird hier erklärt.
„Kalifat ist die Lösung“ – Mit derartigen Losungen zogen islamistische Demonstrierende am 27. April durch Hamburg. Die Kundgebung wurde von „Muslim Interaktiv“ organisiert, einer extremistischen religiösen Gruppierung. Neu ist die Forderung nicht: Schon Ende der 90er rief der sogenannte „Kalif von Köln“ nach einem Kalifat für Deutschland. Aber was ist das eigentlich?
Das Kalifat im Islam
Einfach erklärt: Das Kalifat ist eine religiöse Herrschaftsform in der muslimischen Welt. Der Herrscher wird Kalif genannt, er bestimmt sowohl über weltliche als auch geistliche Fragen. Kalifat bedeutet aus dem Arabischen übersetzt „Nachfolge“, der Kalif ist der „Stellvertreter des Gesandten Gottes“. Ein solcher Staat, bei dem die Machthaber allein religiös legitimiert sind und politische sowie religiöse Funktionen in sich vereinen, nennt sich Theokratie. Der Herrscher handelt angeblich im Auftrag Gottes.
Die Aufgaben eines Kalifen sind vielfältig. Im kleinen Islam-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung heißt es, er sei „für die Durchsetzung der Gesetze, die Verteidigung und Vergrößerung des Herrschaftsgebietes, die Verteilung von Beute und Almosen und die Überwachung der Regierung zuständig“, außerdem sei er der „Wächter des Glaubens“. Der Kalif wurde über die Jahrhunderte unterschiedlich verehrt: mal als gottgleicher König, mal als Oberhaupt der muslimischen Gemeinschaft.
Wie ist das Kalifat entstanden?
Herausgebildet hat sich das Kalifat nach dem Tod des islamischen Propheten Muhammads im siebte Jahrhundert. Zunächst übernahmen nacheinander vier seiner Wegbegleiter die Position des gewählten Kalifen – die sogenannten „rechtgeleiteten Kalifen“. Danach wurde der Kalif mal vom Vorgänger ernannt, mal gewann er den Titel auf dem Schlachtfeld. Das Kalifenreich bereitete sich schnell aus: Bis 750 expandierte es vom heute saudi-arabischen Medina bis nach Portugal und Spanien im Westen sowie bis ins heutige Tadschikistan und Pakistan im Osten.
Doch das Amt verlor über die Jahrhunderte zunehmend an Bedeutung, bis die Mongolen 1258 in Bagdad einfielen und den Kalifen zu Fall brachten. Der Kalifentitel – den die osmanischen Sultane später übernahmen – konnte danach nie wieder an seine alte Bedeutung anknüpfen. Seine Macht verschwand, trotz mehrerer Wiederbelebungsversuche unter anderem im frühen 20. Jahrhundert in Indien und Ägypten, in der Symbolhaftigkeit. 1924 zerbrach das osmanische Kalifat endgültig.
Die Scharia im Islam
Auch zu Hochzeiten des Kalifats konnte der Kalif nicht uneingeschränkt herrschen. Er war bei seiner Machtausübung an die Gesetze Gottes gebunden. Im Islam sind diese in der Scharia festgehalten. Die Scharia legt rechtliche und religiöse Normen fest und leitet sich aus der Interpretation islamischer Texte ab. Es gibt deshalb kaum Konsens darüber, wie genau sie umgesetzt werden soll.
Einige moderne Staaten – darunter Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate – erkennen die Scharia zwar als Rechtsquelle an, erweitern ihre Verfassung jedoch auch um eigene Gesetzgebung. Andere, sowie Pakistan oder Saudi-Arabien, setzen die Scharia – einzelne Rechtsbereiche ausgenommen – mit ihrer Rechtsordnung gleich.
Anwendung findet die Scharia dort insbesondere im Privatrecht, wo sie beispielsweise über Familien-, Personen- oder Erbrechtsfragen entscheidet. Sie beinhaltet auch Körperstrafen wie Peitschenhiebe, Steinigung oder Kreuzigung. Allerdings unterliegen solche Urteilsverhängungen streng festgelegten Regeln der Beweisführung und können auch in abgeschwächter Form eingesetzt werden.
Wo gibt es noch Kalifate?
Dass sich einige moderne Staaten auf die Scharia berufen, heißt jedoch noch nicht, dass dort ein Kalifat herrscht. Ein solches existiert nur noch in islamischen Sondergesellschaften, etwa in Westafrika. Auch der Iran ist kein Kalifat, wohl aber eine Theokratie, die auch republikanische Elemente enthält, mit einem Religionsführer als Staatsoberhaupt und einem Präsidenten, der die Regierungsgeschäfte führt.
Islamistische Fundamentalisten greifen zudem gern auf den Titel des Kalifen zurück. So nannte die Terrormiliz IS ihren Anführer den „Kalifen der Muslime“. Der eingangs erwähnte „Kalif von Köln“, Metin Kaplan, leitete die 2001 in Deutschland verbotene Organisation „Kalifatstaat“, welche die Errichtung eines Staats nach islamischem Recht vorsah.
Das Kalifat als moderner Schlachtruf
Aber warum ist das Kalifat im Islam auch heute noch so wichtig? Was bedeutet es für fundamentalistische Gruppierungen wie „Muslim Interaktiv“? War sie auch kurz, die Glanzzeit des Kalifats war berauschend. Bagdad und Kairo gehörte zu den bedeutendsten Kultur- und Handelszentren der Welt, das Kalifat war eine eurasische Macht. Es verwaltete riesige Ländereien und Hunderttausende von Einwohnern in den größten Metropolen zu einer Zeit, in der es in europäischen Städte nur einige Tausend waren.
Heute ist das Kalifat für eine extremistische Minderheit der Muslime zum Kampfbegriff geworden, ohne jedoch auf konkrete historische Vorbilder in seiner Führung zurückgreifen zu können. Ein großes Problem ist hier die ambige rechtliche Auslegung des islamischen Rechts, das von jedem Kalifen neu interpretiert wurde. Der britische Historiker Hugh Kennedy schrieb dazu in seinem Buch „Das Kalifat. Von Mohammeds Tod bis zum ‚Islamischen Staat‘“: „Wer ein aggressives Kalifat sucht, in dem die muslimische Bevölkerung strikt kontrolliert wird, kann in den umfangreichen historischen Dokumenten Vorläufer dafür finden. Wer ein Kalifat sucht, das großzügig und offen für Ideen und Sitten ist, dabei aber selbstverständlich seiner Sicht des Willens und der Absichten Gottes treu bleibt, wird ebenfalls in der historischen Überlieferung fündig.“
Das Kalifat ist also Auslegungssache – und wird heute in seiner schrecklichsten Form von Extremisten missbraucht, um ihre Herrschaftsansprüche zu legitimieren. (ah)
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