Stehen sie vor einer Wassernot? Rekruten der russischen Streitkräfte auf der annektierten Halbinsel Krim.
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Stehen sie vor einer Wassernot? Rekruten der russischen Streitkräfte auf der annektierten Halbinsel Krim.

Interview mit Osteuropa-Experte

Russlands Truppen stehen wegen „großem Durst schwere Zeiten bevor“

  • Patrick Mayer
    VonPatrick Mayer
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Die mutmaßliche Sprengung des Kachowka-Staudamms wird für Russland zum Eigentor. Das glaubt der Osteuropa-Experte Klaus Gestwa. Im Gespräch mit IPPEN.MEDIA erklärt der Historiker seine These.

München/Tübingen – Dieser kriegerische Akt versetzte im Ukraine-Krieg auch dem Westen einen Schock: Mutmaßlich Russland sorgte für eine verherrende Explosion auf dem besetzten Staudamm des Kachowka-Stausees in der Oblast Cherson.

Sprengung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine: Russland wird verantwortlich gemacht

Moskau ging damit offenbar auch ein erhebliches Risiko für die eigenen Truppen ein. Schließlich versorgt der Nord-Krim-Kanal, der sich aus dem Kachowka-Stausee speist, die Krim mit Wasser. Das weiß Prof. Dr. Klaus Gestwa nur zu gut. Der Historiker der Universität Tübingen schrieb einst seine Habilitationsschrift über die „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“ und ging dabei auch auf den Kachowka-Komplex ein. Der heute 60-Jährige studierte früher unter anderem in Moskau und in Sankt Petersburg.

Im Gespräch mit IPPEN.MEDIA erklärt der viel zitierte Osteuropa-Experte (ARD, SRF, t-online), warum es für die russischen Truppen auf der besetzten Halbinsel jetzt knifflig wird. Was die Sprengung seiner Ansicht nach bezwecken sollte. Und was sie über die Kriegspolitik von Moskau-Machthaber Wladimir Putin aussagt.

Kachowka-Sprengung in der Ukraine: Geht der Krim das Wasser aus?

Herr Gestwa, Moskau meint, der Krim gehe das Wasser über den Nord-Krim-Kanal nicht aus.
In den letzten Wochen hat die russische Besatzungsmacht, die das Kraftwerk, den Damm und die Schleuse bei Kachowka in ihrer Gewalt hat, den Stausee volllaufen lassen. Der Pegel war ungewöhnlich hoch. Das diente dazu, über die gigantischen Pumpwerke reichlich Wasser aus dem „Kosakenmeer“ genannten Kachowkaer Stausee in den über 400 Kilometer langen Nord-Krim-Kanal zu leiten. Die Wasserreservoire auf der Krim sind darum aktuell gut gefüllt. Ob das kühle Nass für 500 Tage reichen wird, wie russische Behörden erklären, erscheint aber fraglich.

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Warum?
Die Landwirtschaft, die Industrie und vor allem der große russische Militärstützpunkt Sewastopol haben einen sehr hohen Wasserbedarf. Es gibt nur wenige lokale Quellen. Vor der Annexion der Krim und der anschließenden ukrainischen Blockade des Nord-Krim-Kanals, bezog die Halbinsel weit über 80 Prozent des benötigten Wassers aus dem Dnipro. In den Dürrejahren von 2019 bis 2021 litten die Menschen und Betriebe auf der Krim daher schon schwer unter Wassermangel. Ohne das Dnipro-Wasser droht über kurz oder lang eine erneute Wassernot. Wirtschaft und Gesellschaft stehen damit auf der Halbinsel schwere Zeiten bevor.

Sprengung des Kachowka-Staudamms: Folgen für die Krim erwartet

Welche Folgen für das Leben auf der Krim sind zu erwarten?
Die Abwanderungswelle von der Krim wird sich noch verstärken, auch weil viele Betriebe Bankrott gehen werden. Der Nord-Krim-Kanal ist und bleibt die Lebensader der Halbinsel. Wenn sie abgeschnürt ist, lässt sich die Krim nicht in eine blühende Landschaft verwandeln, wie es Putin 2014 versprochen hatte. Wegen des großen Dursts der Halbinsel wird der auch mit Wasser ausgetragene Krieg nicht nur auf der Krim von der Sonne verbrannte Erde hinterlassen.

Osteuropa-Experte an der Uni Tübingen: der Historiker Prof. Dr. Klaus Gestwa.
Welche Auswirkung hat die Katastrophe auf das AKW Saporischschja?
Der Kühlteich am AKW ist aktuell randvoll und damit die Kühlung der mittlerweile heruntergefahrenen Reaktoren für die nächste Zeit sichergestellt. Weil sich durch die Verringerung des Wasservolumens des Kachowkaer Stausees die Uferlandschaft verändert hat, gibt es aber Sorgen hinsichtlich der Stabilität des den Kühlteich umgebenden Damms. Er darf unter keinen Umständen brechen.

Sprengung am Kachowka-Staudamm: Auswirkungen für das AKW Saporischschja?

Klingt besorgniserregend.
Noch kann aber von hier weiter Wasser hochgepumpt werden. In den nächsten Tagen wird der Dnipro seinen neuen Flusslauf erhalten und sich das Wasservolumen des übriggebliebenen Kachowkaer Stausees eingepegelt haben. Erst dann lässt sich näher bestimmen, wie bedrohlich die Situation am AKW Saporischschja tatsächlich sein wird. Grund zur Entwarnung gibt es jedenfalls noch keinen. Die Sorge um einen atomaren Gau wird leider bleiben.
Russland bestreitet jegliche Verantwortung für die Staudamm-Sprengung.
Satelliten und Seismografen liefern klare Indizien dafür, dass es im Inneren der Stau- und Kraftwerkanlage eine schwere Explosion gegeben hat, die den Damm über mehrere Hunderte Meter hinweg zum Einsturz brachte. Dieses strukturelle Versagen - darin sind sich die Fachleute einig - hätte nicht durch eine Rakete oder Bombe von außen durch die ukrainischen Streitkräfte herbeigeführt werden können. Die Täterschaft der russischen Seite beweisen vom ukrainischen Geheimdienst abgehörte Telefongespräche russischer Soldaten, in denen diese die Explosion und den Dammbruch plausibel beschreiben.

In den nächsten Tagen wird der Dnipro seinen neuen Flusslauf erhalten und sich das Wasservolumen des übriggebliebenen Kachowkaer Stausees eingepegelt haben.

Dr. Klaus Gestwa, Osteuropa-Experte der Uni Tübingen
Was denken Sie: Wollten die russischen Truppen die ukrainische Gegenoffensive an diesem Frontabschnitt stoppen?
Unklar bleibt, ob die schwere Explosion gezielt herbeigeführt wurde. Als sich im November letzten Jahres die russischen Truppen über den Dnipro zurückzogen, sprengten sie die Dammkrone, um die darüber verlaufende Straße und Bahnstrecke zu zerstören und so einen möglichen Vormarsch ukrainischer Verbände zu verhindern. Dabei wurde die Schleusentoranlage in Mitleidenschaft gezogen. Es gibt daher die Vermutung, dass es erneut zu einer Sprengung auf der Dammkrone gekommen sein könnte, um den dringend notwendigen Wasserdurchlauf wieder zu ermöglichen. 
Die Detonationen könnten dann die zahlreichen zuvor im und am Staudamm angebrachten russischen Minen zur Zündung gebracht und so eine fatale Kettenreaktion ausgelöst haben. Allerdings spricht vieles kurz nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive für ein militärisches Kalkül, um durch einen menschenverachtenden Verzweiflungs- und Terrorakt ukrainische Vorstöße an einem schlecht gesicherten Frontabschnitt zumindest zeitweise zu unterbinden.
Der zerstörte Staudamm Kachowka: Riesige Wassermassen dringen ins Landesinnere der Oblast Cherson.

Kachowka-Staudamm-Sprengung: Um ukrainische Gegenoffensive zu unterbinden?

Was sind Hinweise für diese These?
In den letzten Wochen haben ukrainische Verbände am Unterlauf und im Delta des Dnipros Vorposten bezogen. Hier drohten ukrainische Landungsoperationen. Das hätte es ermöglicht, die russischen Verteidigungslinien zu hintergehen und bis zur Landenge Perekop zu gelangen, die das Festland mit der Krim verbindet. Damit wäre ein wesentlicher Nachschubweg auf die Halbinsel unterbrochen. Es gibt zahlreiche Aufnahmen, wie sich ukrainische Soldaten mit knapper Not aus ihren neuen Stellungen heraus vor den rasant steigenden Fluten in Sicherheit bringen müssen. Die aufwendigen Angriffsvorbereitungen der ukrainischen Verbände sind an diesem südlichen Frontabschnitt zunächst dahin, weil die Uferlandschaft überschwemmt, verschlammt und unpassierbar geworden ist. Der von Moskau eingesetzte Gouverneur der russisch besetzten Gebiete der Oblast Cherson spricht deshalb von der Verbesserung der operativ-taktischen Situation zugunsten der russischen Streitkräfte.
Der Kachowka-Staudamm galt als Errungenschaft der sowjetischen Geschichte, die Wladimir Putin immer wieder bemüht. Was sagt dieser Akt über die russische Kriegsführung aus?
Das Dnipro-Flusskraftwerk bei Kachowka wurde in den 1950erJahren fertiggestellt. Es war Teil der sogenannten „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“, die wenige Jahre nach dem sowjetischen Weltkriegstriumphs und nach der großen Nachkriegshungersnot von 1946/47 in Angriff genommen wurden, um die gesamte Steppen- und Wüstengebiete im Süden der Sowjetunion durch gigantische Staudämme, Kanäle und  Bewässerungssysteme in ertragreiche Industrie- und Agrargebiete zu verwandeln. Das kolonialistische Zerrbild, die Stalinschen Großbauten seien Geschenke des großen russischen Bruders an seine kleinen nicht-russischen Geschwister gewesen, bestimmt bis heute die Moskauer Propaganda. Deshalb empfinden viele Menschen in Russland keinerlei Mitleid mit den ukrainischen Familien, deren Heimat durch das Wasser zerstört worden ist.
Die bittere Ironie der Geschichte ist, dass Putin der Ukraine unentwegt vorwirft, das gemeinsame sowjetische Erbe mit Füßen zu treten. Nun ist es aber seine Armee, die - sicherlich mit seinem politischen Segen - den symbolträchtigen Großbau des Kommunismus bei Kachowka als wichtigen sowjetischen Erinnerungsort zerstört. Dass die russische Militärmacht sogar zu solchen selbstzerstörerischen Akten bereit ist, demonstriert eindrucksvoll, wie sehr sie in Bedrängnis geraten ist.

Interview: Patrick Mayer