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Historische Evakuierung geplant: Putin will Kursk-Geflüchtete in die besetzte Ukraine schicken
VonMichael Kister
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Ukrainische Truppen dringen in Russland vor. 190.000 Menschen sollen Kursk und Belgorod verlassen. Das besetzte Saporischschja könnte ihr Ziel sein.
Kursk – Auf die größte Invasion in Russland nach dem Zweiten Weltkrieg folgt im Kontext des Ukraine-Kriegs nun die größte offizielle Evakuierung seit über 80 Jahren. Am 6. August überwanden etwa 1000 ukrainische Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen und schwerem Gerät die Grenze zur russischen Region Kursk. Seitdem erhielten sie Verstärkungen und rückten stetig vor. Das bestätigen westliche Militärexperten vom Institute for the Study of War (ISW) sowie russische Militärblogger, während Wladimir Putin Rache schwört.
Alexej Smirnow, Gouverneur der Region Kursk, kündigte nach Angaben des unabhängigen russischen Mediums Agentstvo während einer Sitzung des russischen Sicherheitsrats am Montag an, dass deswegen 180.000 Menschen aus seinem Verwaltungsbereich evakuiert werden. 121.000 Menschen hätten ihre Häuser bereits verlassen, so Smirnow weiter. Seitdem halten die Autoritäten die Bevölkerung der sechs Grenzbezirke Sudschanski, Korenewski, Belowski, Gluschkowski, Rylski und Chomutowski sowie der beiden an das Kernkraftwerk Kursk angrenzenden Bezirke Bolschesoldatski und Lgowski zur Flucht an.
Geflüchtete aus Region Kursk sollen im besetzten Saporischschja untergebracht werden
Der Kursker Gouverneur schrieb am Dienstag in einem Telegram-Post, dass er mit Jewgeni Balizkij am Telefon über die Lage gesprochen habe. Balyzkyj, ein gebürtiger Ukrainer, ist seit Mai 2022 im Auftrag Russlands Verwalter des besetzten Teils der ukrainischen Region Saporischschja. Er habe angeboten, so Smirnow in seinem Post, die Geflüchteten aus den Grenzgebieten in Sanatorien und Kurorten zwischen Berdjansk und Kirillowka am Asowschen Meer unterzubringen. In naher Zukunft sollten die ersten Menschen per Flugzeug in diese Notunterkünfte in der Region Saporischschja gebracht werden.
Ebenfalls am Montag gab der Gouverneur der benachbarten Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, auf Telegram bekannt, dass die Bewohner des Bezirks Krasnojaruschski auch „an sicherere Orte umzusiedeln“ seien. Grund seien „feindliche Aktivitäten“ an der Grenze. Das Gebiet grenzt im Norden an den Bezirk Belowski in der Region Kursk und im Westen an die Ukraine und hatte der Volkszählung der staatlichen Statistikbehörde Rosstat zufolge 2021 gut 14.000 Einwohner. Laut einer Videobotschaft Gladkows seien bis Dienstagmorgen bereits „mehr als 11.000 Menschen“ in Notunterkünften untergebracht worden.
Die größte Evakuierung in Russland seit dem Zweiten Weltkrieg
Die russischen Behörden wollen also über 190.000 Menschen in Sicherheit bringen. Zum letzten Mal flohen während des Zweiten Tschetschenienkrieges massenhaft Russen vor Kämpfen im eigenen Land. Im Herbst 1999 seien etwa 300.000 Menschen aus Tschetschenien geflüchtet, sagte Alexander Tscherkassow, Vorstandsmitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial gegenüber Agentstvo.
Es habe während der Tschetschenienkriege aber keine organisierte Evakuierung gegeben, so Tscherkassow, die Flucht erfolgte auf eigene Faust. Daher, analysiert Agentstvo, sei das nächste historische Vorbild für die gegenwärtige, von den russischen Behörden angeleitete Evakuierung wohl eher in der Evakuierung von Leningrad im August 1941 zu erblicken. Dass die russische Führung das Vorgehen koordiniert, deutet jedoch keinesfalls auf einen reibungslosen Ablauf hin.
Russische Einwohner der Region Kursk: „Wir sind alle im Stich gelassen worden“
Roman, ein 49-jähriger russischer Staatsbediensteter aus der Nähe von Sudscha, sagte der New York Times unter der Bedingung, dass er anonym bleibt, der ukrainische Einfall scheine die Behörden so sehr geschockt zu haben, dass Anwohner sich gegenseitig helfen mussten. Iwan, 39 Jahre alt und Einwohner von Sudscha, schrieb der US-Zeitung: „Wir sind alle im Stich gelassen worden.“ Die Leute hälfen sich gegenseitig, so gut sie können, fuhr er fort, aber „der Regierung ist das egal.“ Auch Iwan will anonym bleiben.
Selbst die russische Zeitung Kommersant berichtete nach Angaben der Washington Post darüber, dass die Bevölkerung der Region Kursk wütend ist und sich von ihrer Führung alleingelassen fühlt. Der Kreml-nahe Analyst Sergej Markow schrieb auf Telegram, der Angriff habe den einfachen Russen vor Augen geführt, dass sie den Krieg nicht länger ignorieren und auf ein Ende hoffen könnten. „In Russland hat man erkannt, dass offenbar niemand in der Lage ist, den Krieg auszusitzen“, so Markow.
Ukraine-Krieg: Die Ursprünge des Konflikts mit Russland
Auch die Ukraine muss im Zuge ihrer Offensive eine hastige Evakuierung durchführen
Oberstleutnant Artem, stellvertretender Kommandeur einer an der Offensive beteiligten ukrainischen Brigade, erklärte gegenüber der New York Times, er habe seine untergebenen Offiziere erst drei Tage vor Beginn der Operation davon in Kenntnis gesetzt. Einfache Soldaten erfuhren sogar nur einen Tag vorher von den Plänen. Da der Vorstoß nach Russland im Vorfeld so strikt geheim gehalten worden war, ist nun allerdings auch die Ukraine zu einer hastigen Evakuierung gezwungen.
Weil sie nicht im Vorhinein gewarnt werden konnten, sollen 20.000 Zivilisten, die bis zu 10 Kilometer von der Grenze entfernt wohnen, evakuiert werden, wie die New York Times berichtete. Das ist nötig, weil Russland auf den ukrainischen Angriff mit schweren Bombardements aus der Luft antwortete, die beiderseits der Grenze schwere Zerstörungen anrichteten. (MicKis)