Entführte Zivilisten
Ukraine-Konferenz fordert Rückgabe verschleppter Kinder aus Russland: „Ziel ist die Auslöschung der Identität“
VonChristiane Kühlschließen
Die Verschleppung tausender ukrainischer Kinder nach Russland ist eines der Themen auf der Ukraine-Konferenz am Wochenende. Nicht einmal 400 Opfer sind bisher zurückgekehrt.
Die große Mehrheit der Teilnehmer an der Ukraine-Friedenskonferenz haben im Abschlussdokument auch die Forderung an Russland unterzeichnet, verschleppte ukrainische Zivilisten heimkehren zu lassen. Dazu gehören Tausende Kinder, die auf Anweisung Moskaus gezielt aus den besetzten Gebieten verschleppt wurden. Nach neuen Medienberichten werden die ukrainische Kinder in Russland inzwischen auf Webseiten zur Adoption angeboten – mit russischen Namen und ohne die geringsten Hinweise auf ihre Herkunft. Die Financial Times hatte in einer aufwändigen Recherche vier Kinder zwischen acht und 15 Jahren auf einer von der russischen Regierung betriebenen Adoptionswebsite als geborene Ukrainer identifiziert und lokalisiert: in Tula bei Moskau, Orenburg nahe der Grenze zu Kasachstan und auf der Krim - ein Zeichen, dass die ukrainischen Kinder in dem ganzen riesigen Land verteilt werden.
Die New York Times berichtet parallel über siebzehn weitere Kinder, die aus einem Kinderheim in Cherson entführt wurden, als die ukrainischen Truppen im September 2022 zur Rückeroberung der besetzten Stadt ansetzten. Russen haben den Abtransport der Kleinkinder sogar stolz gefilmt. Der nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, Jake Sullivan bezeichnete die Berichte am Mittwoch als „verabscheuungswürdig und entsetzlich“. Hunderttausende Zivilisten seien aus der Ukraine entführt worden, so Sullivan auf der Website des Weißen Hauses. Dazu gehören auch Erwachsene.
Vermittlungsbemühungen in mehreren Ländern
„Das Ziel der Verschleppungen ist selbstverständlich die Auslöschung der ukrainischen Identität der Kinder“, sagt die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Renata Alt. Die FDP-Politikerin bemüht sich derzeit in mehreren Ländern um eine Vermittlung zur Rückholung von Kindern in ihre Heimat, dazu reiste sie unter anderem nach Katar, Ägypten, Saudi-Arabien oder Kasachstan.
„Katar hat bereits zweimal die Rückkehr einer kleineren Gruppe von Kindern vermittelt“, erzählt sie IPPEN.MEDIA. „Das Problem bei Katar aber ist, dass sie nur dann aktiv werden, wenn sie sicher sind, dass dies zu einem Erfolg führt – weil Katar sich als erfolgreicher diplomatischer Player etablieren möchte.“ Ägypten vermittle nicht selbst, aber biete sehr aktiv Gesprächsräume für Vermittlungsbemühungen an. Kasachstan wiederum stehe wegen seiner engen Verflechtungen mit Russland oft unter Druck aus Moskau, sich nicht zu sehr für die Ukraine zu engagieren.
Neue Berichte über Adoptionsangebote für entführte Kinder
Dass der Aufwand sein muss, zeigen die beiden Berichte, die den den stetig anwachsenden Berg von Beweisen über die systematische Verschleppung von Kindern ergänzen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat deshalb einen weltweiten Haftbefehl gegen Präsident Wladimir Putin und seine Kinderrechts-Beauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. Lwowa-Belowa selbst hatte Putin schon kurz nach Kriegsbeginn gedrängt, die entführten Kinder dauerhaft umzusiedeln und in russische Familien zu integrieren. Putin unterschrieb in der Folge seit Mai 2022 mehrere Dekrete, die für eine unbürokratische Einbürgerung der verschleppten Kinder und Jugendliche sorgen – die Voraussetzung für eine Adoption.
Schon seit der Besetzung der Krim und Teilen des Donbass 2014 haben Russen unter dem Deckmantel der Evakuierung ukrainische Kinder entführt. Doch mit der Vollinvasion im Februar 2022 explodierte ihre Zahl. Nach Schätzungen der ukrainischen Behörden fast 20.000 Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland verschleppt. 550 der Kinder sind demnach inzwischen tot. Nur 388 von ihnen sind in die Ukraine zurückgekehrt.
Zahlen entführter Kinder schwer zu verifizieren
„Jeder sagt mir, dass die Zahl der entführten Kinder sehr schwer zu verifizieren sei, da niemand in die russisch besetzten Gebiete vordringen kann“, sagt Renata Alt. „Für die spätere Strafverfolgung in Den Haag aber ist es sehr wichtig zu wissen, an welchem Tag die Kinder von welchem Ort verschwunden sind: Waren es Einzelfälle, oder liegt ein Genozid vor oder die Auslöschung einer Stadt?“ Die International Commission on Missing Persons (ICMP) in Den Haag sammelt diese Daten und prüft derzeit, wie sich mithilfe von DNA-Analysen noch bessere Informationen bekommen lassen.
Verschleppte Kinder: Indoktrination und paramilitärisches Training
Die jungen Opfer würden nach ihrer Entführung einer umfassenden Indoktrination unterzogen, um ihnen eine russische Identität aufzuzwingen, heißt es in einem aktuellen Bericht der US-Denkfabrik Atlantic Council. „Dieser Prozess findet in einem Netz von Lagern in ganz Russland statt.“ Eine Studie der Yale-Universität habe 43 Indoktrinations-Einrichtungen identifiziert. Hinzu kommen Berichte, dass entführte Teenager paramilitärische Trainings bekommen oder ab 18 Jahren sogar an die Front geschickt werden, um gegen ihr eigenes Land zu kämpfen.
Die Rückholung der Verschleppten ist derweil ein mühsamer Prozess: Die Kinder müssen in Russland gefunden werden, die Verwandten dann dorthin reisen, um ihre Kinder auszulösen. „Am erfolgreichsten war dabei bislang die Klitschko-Stiftung, die mehr als 100 Kinder aus Russland zurückholen konnte.“ Die Stiftung des früheren Boxers Wladimir Klitschko habe ein Netzwerk aufgebaut, um an Informationen über den Verbleib entführter Kinder zu gelangen.
Renata Alt berichtet zudem über Gespräche mit zwei ukrainischen Frauen während der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Berlin, die von der Westukraine aus mit ihren Organisationen die verschleppten Kinder suchen. „Sie sagten, dass die meisten zur Adoption freigegebenen entführten Kinder Waisen seien und gezielt an wohlhabende russische Familien vermittelt werden“, so Alt. „Auch erzählten sie mir, dass es in der ukrainischen Gesellschaft deswegen Diskussionen gebe: Wenn die Waisen in Russland in Obhut sind, dort Liebe, Bildung und eine Gesundheitsversorgung bekommen – ist das dann dort besser für sie, als wieder herausgerissen und in der Ukraine untergebracht zu werden, wo ja auch immer noch Krieg herrscht?“ Auch in im UN-Kinderhilfswerk UNICEF stelle man sich diese Fragen. Es ist ein verstörendes, schwieriges Thema.
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