Magie des Augenblicks?
„In einem halben Jahr wird abgerechnet“ – Was den Demos gegen rechts noch fehlt
VonGiorgia Grimaldischließen
Deutschland geht seit Wochen auf die Straße. Doch laut dem Autor Friedemann Karig reicht das nicht. Wie Protest wirklich wirkt und was jetzt passieren muss.
Erneut haben sich Hunderttausende am vergangenen Wochenende in den Innenstädten versammelt, um gegen Rechtsextremismus und die AfD zu demonstrieren. Nicht die einzige Unruhe, die Deutschland aus dem gewohnten Trott reißt: Landwirte blockierten Straßen und die Letzte Generation kündigte an, eine neue Strategie zu verfolgen.
Die Aktivisten von Fridays For Future bilden eine Allianz mit der Gewerkschaft Verdi für Warnstreiks im Rahmen der Mobilitätswende. Hinzukommen Streiks der GDL und dem Bodenpersonal der Lufthansa, die bessere Arbeitsbedingungen fordern. Ganz Deutschland begehrt auf. Aber warum gerade jetzt und verändert dieser Protest das Land nachhaltig?
„Die größten Errungenschaften unseres Zusammenlebens wurden durch Protest erstritten“
Antworten auf diese Fragen kann der Autor Friedemann Karig geben, der in Los Angeles im Thomas-Mann-House auf den Spuren von Martin Luther King und Mahatma Gandhi über Protest forscht. Die Idee zu einem Buch sei aber nicht erst angesichts der aktuellen Entwicklungen entstanden, sondern schon ein paar Jahre alt, sagt Karig. Vor allem ein Widerspruch habe das Projekt angestoßen.
„Die größten Errungenschaften unseres sozialen und politischen Zusammenlebens, Demokratie und Wahlrecht oder freie Meinungsäußerung, wurden auch durch Protest erstritten. Und dennoch sind wir in Deutschland sehr skeptisch gegenüber Protest.“ Sein Buch, „Was ihr wollt. Wie Protest wirklich wirkt“, das sich mit den Mechanismen und der Wirkung kollektiven Aufbegehrens beschäftigt, erscheint Mitte März. Ein paar Erkenntnisse aus seinen Recherchen teilt Karig mit BuzzFeed News Deutschland, einem Portal von Ippen.Media, vorab.
Deutscher Protest steckt in den Kinderschuhen
„In den 80ern erinnere ich mich an meine erste Demo gegen Atomkraftwerke, da war ich vier oder fünf Jahre alt, die Friedensbewegung habe ich also knapp verpasst. In den 90ern gab es dann Lichterketten gegen Rechts – aber wirklich großes, nachhaltiges ist außer Fridays For Future kaum mehr passiert. Massenprotest in großen Zahlen ist in Deutschland einfach nicht sonderlich üblich“, fasst Karig zusammen. Außerdem müsse sich Protest ständig rechtfertigen, macht der Autor am Beispiel der Letzten Generation fest.
Doch „nur“ weil nun seit drei Wochen Hunderttausende Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen, zögert Karig noch, von einer historischen Bewegung zu sprechen. „Wenn man sich die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA ansieht, sieht man: Das war ein jahrzehntelanger, heftiger, auch von großer Gewalt überschatteter Kampf gegen heftige Repressionen. Das heißt, die Vorbilder, an denen man sich orientieren könnte, sind sehr groß. Aber es ist ein wichtiger Anfang.“
Klimabewegung geht „quer durch die Gesellschaft“
Anders sehe das bei der Klimabewegung aus, die könne man in die Reihe der großen Proteste mitaufnehmen. „Sie ist sehr divers in Mobilisierung und Mitteln, sie streitet auf vielen Ebenen, geht quer durch die Gesellschaft.“ Sie habe Massenpotenzial, mit Fridays For Future, die Millionen bewegen, aber auch „ein disruptives Potenzial“, also ein störendes Moment, etwa mit der Letzten Generation und Ende Gelände, die den Hambacher Forst besetzen.
„Und sie haben die Wissenschaft, und wenn man so will, damit eine solide Ethik, auf ihrer Seite“, erklärt Karig. Die Klimabewegung sei damit ein positives Beispiel. Was die jüngsten, antifaschistischen Bewegungen konkret bewegen können, bleibe abzuwarten. Aber: „Wenn man jetzt hartnäckig bleibt, ist vieles möglich.“
„Nichts mit Magie des Augenblicks zu tun“ - Wie Protest wirklich funktioniert
Doch was sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen und langanhaltenden Protest? Schnell denken wir an die Krisen der vergangenen Jahre – Corona, Krieg, Inflation – um die aktuelle Stimmung zu erklären. Oder haben bei erfolgreichem Protest Schlüsselfiguren wie Greta Thunberg für Fridays For Future oder das Gesicht der deutschen Klimabewegung Luisa Neubauer vor Augen. Doch nach ausgiebigen Recherchen kommt Karig zu einem anderen Schluss. Proteste brauchen das nicht zwingend, im Gegenteil: die Sehnsucht nach ikonischen Figuren, nach Helden würde uns sogar hemmen.
„Wenn man sich die Bewegungen anschaut, etwa die Schwarze Bürgerrechtsbewegung, merkt man, Figuren wie Martin Luther King und Rosa Parks waren nicht so wichtig, wie man denken könnte.“ Karig sagt, wir hätten sie im Nachhinein auch verklärt und bezeichnet das als „Verantwortungsexternalisierung“. „Solange wir auf eine charismatische Führungsfigur warten, entlasten wir uns sehr bequem.“
Wovon Protest lebt und woran er scheitert
Protest lebe von jedem und jeder Einzelnen. „Und nur wenn alle ein Gefühl dafür entwickeln ‚hier passiert etwas’, dann kann das historische Momentum kommen. Protest schafft seine historischen Momente im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung immer selbst. Er erzählt sich so lange, dass ein historischer Moment ansteht, bis es wirklich klappt.“
Der Autor erklärt, es gebe viele Beispiele, bei denen wir im Nachhinein sagen, „das hat ja so kommen müssen“. Aber wer genauer hinsieht, merke: „Dieselben Bewegungen sind 20 Mal vorher gescheitert. Es hat überhaupt nichts mit einer Magie des Augenblicks zu tun, sondern mit der Hartnäckigkeit vieler Menschen.“
„In einem halben Jahr wird abgerechnet“ – Was jetzt mit den Demos gegen rechts passieren muss
„Mit drei Wochen verändert man wenig. Was jetzt passieren muss, ist überhaupt nicht magisch oder diffus. Man kann es sich sehr gut von vorherigen Bewegungen abschauen“, sagt Karig. Und das sei vor allem ein höherer Grad an Organisation. Menschen müssen nun Bereitschaft zeigen, Ehrenämter zu übernehmen, sich in Verbänden zu organisieren, in eine Partei einzutreten und Verantwortung zu übernehmen.
Denn: „Wir wissen aus der Forschung, dass, wenn man Wahlergebnisse beeinflussen will, das erst passiert, wenn Wahlen sind. Man kann Wahlergebnisse nicht ein halbes Jahr vorher beeinflussen. Umfragen sind keine Wahlergebnisse“.
Dass die AfD jetzt Prozentpunkte verliere, zeige, dass Protest wirkt, sagt Karig. Wie die AfD nervös wird und welche Fehler sie macht, erklärt ein Kommunikationsexperte. „Aber das heißt noch wenig. In einem halben Jahr wird abgerechnet. Im Mai sind die ersten Kommunalwahlen, später die Europawahlen. Und wenn man da nicht demonstrieren geht, war der Januar nicht viel wert“, sagt Karig.
Karig sieht für Deutschlands weiteren Weg nur zwei Optionen. „Entweder wir machen weiter wie bisher – also nicht politisch organisiert, nicht politisch wirksam in der Breite. Oder wir ändern unsere ureigene Einstellung zu Politik, gehen auf die Straße, denken anders darüber nach, wie wir Einfluss nehmen können: Es muss normal werden, nicht die Ausnahme, politisch für etwas zu streiten und wirklich aktiv zu werden.“
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