Ausschreitungen in Frankreich
Der Wind dreht sich: Wut über die Ausschreitungen kommt Le Pen zugute
- VonTadhg Nagelschließen
Frankreich kommt seit dem tödlichen Schuss auf einen 17-Jährigen nicht zur Ruhe. Die politische Lähmung von Präsident Macron nutzt vor allem der Rechtspopulistin Le Pen.
Frankreich – Ein weiterer Schuss aus einer Waffe der Polizei, ein weiteres Opfer der Polizeigewalt – in Frankreich keine Seltenheit. Alleine 2022 starben 13 Menschen durch Schießereien im Rahmen von Verkehrskontrollen. Der 17-jährige Nahel Merzouk, der am Morgen des 27. Juni 2023 bei einer Polizeikontrolle sein Leben verlor, ist also kein Einzelfall. Doch etwas scheint dieses Mal anders. Vielleicht war es das Video, das kurz nach dem tödlichen Schuss auftauchte. Oder dieser war schlicht der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Ursachen sind noch immer nicht genau geklärt, fest steht jedoch, dass Frankreich nach dem Vorfall lange nicht zur Ruhe kam. Unterdessen ist die Stimmung im Land gekippt, was am Ende Marine Le Pen in die Hände spielen könnte.
In den Ausschreitungen, die die Grande Nation gut eine Woche lang fest im Griff hatten, kanalisierte sich die Wut auf die Perspektivlosigkeit in den Banlieues, auf die Armut, auf Rassismus und Polizeigewalt, die zum Teil aus dem strukturellen Problem der Polizei selbst stammt. Und zunächst schien es, als würden die meisten Menschen in Frankreich den Standpunkt der Aufständischen verstehen, dass es so nicht weitergehen kann, auch wenn er nicht der eigene war. Es schien, als gäbe es Verständnis für den Frust, der sich entlädt. Neben Statements von Prominenten gegen Rassismus und Polizeigewalt, nannte auch Emmanuel Macron den Vorfall „unverzeihlich“ und „unerklärlich“, wie der Spiegel berichtete.
Ausschreitungen in Frankreich: Mehr als 40.000 Polizisten und eine überforderte Regierung
Gleichzeitig ließ der Präsident nach der ersten Nacht der Ausschreitungen über 40.000 Polizisten auffahren, um der Situation Herr zu werden. Geändert hat das wenig, nach wie vor steht das Land in Flammen. Nach Angaben der Welt schwindet inzwischen der Rückhalt für die Aufständischen. Diese könnten die Gewalt nicht mehr verstehen, hieß es dort. „Sie zerstören. Das ist Hass“, habe der Bürgermeister von L‘Haÿ-les-Roses, einem gutbürgerlichen Pariser Vorort, sich geäußert. Er habe von „Niederträchtigkeit“ und „Horror“ gesprochen, nachdem er sich die dritte Nacht in seinem Ratshaus verschanzt habe. Gleichzeitig wäre sein Haus angezündet und seine Familie angegriffen worden. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen versuchten Mordes.
Sogar Gruppen von Müttern würden sich inzwischen verabreden, um nachts Schulen zu bewachen. Sie müssten dabei zusehen, wie ihre Autos in Brand gesetzt und die Infrastruktur zerstört würde. Die Regierung sei indes überfordert „angesichts eines Aufstands ohne Forderungen und politische Ideologie“. Regierungssprecher Olivier Véran habe am Sonntag (02. Juli) im öffentlichen Rundfunk bemerkt, dass die Plünderungen „keine politische Botschaft“ hätten. Niemand habe eine Antwort darauf, wie der Graben, der sich durch die französische Gesellschaft ziehe, zu überbrücken sei, so die Zeitung. Immerhin könne Macron nicht einfach wie bei den Gelbwestenprozessen die Steuern senken, um die Wut zu bändigen.
Für Recht und Ordnung: Marine Le Pen und die Polizei wollen im Land durchgreifen
Eine Person hingegen scheint genau zu wissen, wie man die Ordnung im Land wieder herstellen kann. Wie die ZEIT berichtet, hat Marine Le Pen, neben einer französischen Fahne stehend, gefordert, dass der Ausnahmezustand ausgerufen werden müsse. Sie habe von Anarchie gesprochen und für eine Gefahr für alle Bürger Frankreichs. Damit spreche sie nicht nur den besorgten Franzosen aus der Seele, sondern auch den Polizisten. Über 50 Prozent aller französischen Beamten wählten bereits jetzt die Rechtspopulistin, hieß es weiter. Eine unheilige Allianz, die Le Pen gerne eingehe. Oft besuche sie Kommissariate und Polizeiwachen.
Polizist erschießt 17-Jährigen – dann brennen in Frankreich die Vororte




Zudem habe sie kürzlich gefordert, Polizisten grundsätzlich freizusprechen, die im Dienst geltendes Recht brechen. Den Menschen in Frankreich scheine das zu gefallen. Sowohl Le Pen, als auch die Polizei seien in Umfragen schon vor den Ausschreitungen auf hohe Sympathiewerte gekommen, die aktuelle Situation verstärke den Zuspruch durch die Bevölkerung noch. Le Pens Lösungsvorschläge, von Ausgangssperren und Ausnahmezustand bis hin zum Aufmarsch des Militärs in den Städten, um „mal aufzuräumen“ mit den „Banditen“, liefen in den Medien auf und ab. Die Polizei sei ebenfalls der Meinung, sie befinde sich im Krieg mit Teilen der Bevölkerung. Die Vorstädter seien in einer offiziellen Pressemitteilung als „Schädlinge“ bezeichnet worden.
Keine politische Lösung: Mehr Polizei kann die strukturellen Probleme nicht lösen
Da Emmanuel Macron keine politische Lösung einfalle, gerate er immer weiter in die Zwickmühle. Statt eine Reform der Polizei anzustreben, was die Wut der Jugendlichen besänftigen könnte, mache er sich immer mehr von der repressiven Kraft der Polizisten abhängig. Er schicke jeden Tag mehr Polizisten und kritisiere selbst die gröbsten verbalen Ausrutscher seiner Konkurrentin Le Pen nicht. Dabei habe ihn sogar die UN angemahnt, dass das Diskriminierungs- und Rassismusproblem bei der Polizei in Frankreich dringend gelöst werden müsse. Doch Macrons Regierung sei, wie bereits während seiner ganzen Amtszeit, auf die Polizei angewiesen, die inzwischen selbst damit drohe „in den Widerstand“ zu gehen.
Die Abhängigkeit der Macron-Regierung von der Polizei
Es ist nicht das erste Mal in Emmanuel Macrons Regierungszeit, dass die Polizei im großen Stil eingesetzt wird. Zwischen November 2018 und Frühjahr 2019 gab es wahrend Demonstrationen der sogenannten Gelbwestenbewegung zahlreiche Ausschreitungen und Krawalle. Auch die Proteste gegen die Rentenreform im Lauf des Jahres 2023 führten zu Aufständen, die von der Polizei in Schach gehalten wurden.
Das ermögliche Marine Le Pen „ein perfekt rassistisches Narrativ“ aufzubauen, wie es der Soziologe François Dubet ausgedrückt habe. Für die Probleme mache sie vor allem persönliche und kulturelle Mängel der in den Banlieus Wohnenden verantwortlich. „Sie müssen ihre Kinder besser erziehen!“, laute der gebetsmühlenartige Lösungsvorschlag, den Le Pen und die Konservativen unisono herunterleierten. Durch seine Handlungsunfähigkeit rolle Macron den Rechtspopulisten den roten Teppich aus, so die Welt. Dabei gibt es durchaus andere Ansätze. „Was, wenn die Plünderungen in Zusammenhang mit der Armut stünden?“, habe Sandrine Rousseau von den französischen Grünen in den Raum gestellt. Eine gute Frage. (Tadhg Nagel)
Transparenzhinweis: In einer vorherigen Version des Artikels war im Einstiegssatz von „tödlichen Schüssen auf einen 17-Jährigen“ die Rede. Es handelte sich aber nur um einen Schuss. Diesen Fehler haben wir korrigiert.
Rubriklistenbild: © Michael Bunel / Le Pictorium via www.imago-images.de
