Trotz Migrationspakt mit EU

„Ohne Essen und Trinken“: Tunesien setzt Hunderte Geflüchtete in der Wüste aus

  • VonTadhg Nagel
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Tunesien steht am wirtschaftlichen Abgrund. Trotzdem strömen Hunderte Flüchtlinge ins Land. Die Gewalt nimmt zu. Aber die EU hält am Migrationsabkommen fest.

Sfax - Hunderte Migranten aus der tunesischen Hafenstadt Sfax sind seit Anfang der Woche in die Wüste vertrieben worden. Vorausgegangen waren starke Spannungen mit den Stadtbewohnern, die seit Tagen andauern und teilweise in gewaltsamen Auseinandersetzungen gemündet sind.

Tunesien kämpft mit der illegalen Migration

Nach Berichten von Anwohnern bewarfen sich Migranten und Tunesier gegenseitig mit Steinen. Eine staatliche Agentur in Tunesien meldete die Festnahme von 34 Personen. Ein Video, das in den sozialen Medien verbreitet wurde, zeigt angeblich, wie eine Unterkunft von Migranten in Brand gesteckt worden war. Der Konflikt gipfelte in der Nacht auf Dienstag (04. Juli), als ein 41-jähriger Tunesier erstochen wurde.

Obwohl es erst jetzt zu Ausbrüchen von Gewalt gekommen ist, schwelt der Konflikt bereits seit einiger Zeit. Die Einwohner der südlich von Tunis gelegenen Hafenstadt hatten sich zuletzt vermehrt über die Migranten und deren Verhalten beklagt. Letzten Monat wurden Forderungen nach Abschiebungen laut – mit der Begründung, dass Sfax keine „Stadt der Flüchtlinge“ werden solle.

Geflüchtete ziehen durch die sengende Sonne der nordafrikanischen Wüste.

Die Geflüchteten wiederum sehen sich nach eigener Darstellung dem Rassismus der Einwohner in ihrer Notlage schutzlos ausgeliefert. Viele Migranten gelten als illegal eingereist, da sie keinen Reisepass haben. Ohne den gibt es in Tunesien jedoch weder eine Arbeitserlaubnis noch einen Aufenthaltsstatus, wodurch die „sans papiers“ (Dokumentlose) zu Menschen zweiter Klasse werden.

Vertreibung und Gewalt: Konflikt zwischen Geflüchteten und Bevölkerung spitzt sich zu

Nach der tödlichen Messerattacke hat sich die Stimmung nun noch weiter aufgeheizt. Die Bewohner von Sfax sind empört und wollen den Geflüchteten in ihrer Stadt jetzt keinen Schutz mehr bieten. Dutzende seien gewaltsam vertrieben worden oder selbst geflohen, so die Agentur AFP. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass hunderte Migranten mit Bussen in Wüstengebiete im Süden des Landes gebracht worden seien. In den Grenzgebieten zu Algerien und Libyen, den Ländern, aus denen viele ins Land gekommen waren, seien sie ohne Vorräte ausgesetzt worden. „Wir haben nichts zu essen oder trinken. Wir sind in der Wüste“, klagte der 27-jährige Issa Kone gegenüber der Nachrichtenagentur.

Agenten der Nationalgarde seien nachts in ihre Bleibe eingedrungen, hätten sie gefasst und anschließend in die Wüste verfrachtet, so Kone. Die Paramilitärs handelten damit im Interesse der Regierung. Präsident Kais Saied hatte zuletzt ein härteres Vorgehen gegen die „Horden“ von Migranten angekündigt, denen er eine „kriminelle Verschwörung“ unterstellt. Der Vorwurf von einem „seit Beginn des 21. Jahrhunderts ausgeheckten kriminellen Plan“, den Saied aktiv befeuerte, ist Teil der Verschwörungstheorie vom „schwarzafrikanischen Plan“. Ziel sei es, die „demografische Zusammensetzung Tunesiens“ zu beeinflussen. Seit der verbalen Brandstiftung war es zu deutlich mehr Gewalt und Schikanen gegen Migranten aus Ländern südlich der Sahara gekommen.

Wirtschaftskrise und Armut: ist das Transitland Tunesien sicher?

Als weiterer Grund für die fremdenfeindliche Stimmung gilt die Wirtschaftskrise im Land. Immer wieder musste sich Tunesien beim internationalen Währungsfonds und bei der Europäischen Union Geld leihen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Die Zinsanhebung der Zentralbanken in Europa und den USA macht Kredite teurer und wirkt als Brandbeschleuniger. Die starke Abhängigkeit von importiertem Weizen verstärkt das Problem. 60 Prozent des Weizens stammen aus der Ukraine oder aus Russland. Im Sommer 2022 gab es daher zeitweise kein Brot mehr zu kaufen. Durch den Ukraine-Krieg habe sich das Budget, das für die Ernährung einer Familie nötig ist, verdoppelt, hatte eine Frau namens Hajer auf einem Markt in Tunis dem ZDF gegenüber geklagt.

Zusammen mit Libyen gilt Tunesien als eines der wichtigsten nordafrikanischen Transitländer für Migranten auf dem Weg nach Europa. Die sich verschlechternde Situation im Land führte laut Beobachtern zu einem sprunghaften Anstieg von Menschen, die versuchen, mit einem Boot nach Europa zu kommen. Es seien nicht nur Geflüchtete aus anderen Ländern, die sich auf die Reise ins Ungewisse aufmachen, sondern auch viele Tunesier, so das Nachrichtenportal DW. Täglich verlieren Menschen auf der Mittelmeerroute ihr Leben, weil sie weder in Tunesien bleiben, noch in ihre Heimat zurückkehren können. UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk sprach gegenüber der Tagesschau von über 26.000 Toten seit 2014.

Welche Routen werden zur Flucht nach Europa genutzt?

Es gibt zahlreiche Wege, auf denen Geflüchtete nach Europa kommen, die teilweise über den Landweg, meistens jedoch über das Meer führen. Die „Westafrikanische Route“ bezeichnet den Weg von Westafrika auf die kanarischen Inseln. Die „westliche Balkanroute“ führt über die Balkanstaaten. Seit dem Migrationspakt mit der Türkei, hat die Route etwas an Bedeutung verloren. Einen weiterer Fluchtkorridor, die „östliche Landroute“, führt über den Landweg nach Polen, Ungarn oder in die Slowakei. Die meisten Menschen kommen zurzeit über das Mittelmeer zu uns.

„Hunderttausende illegale Migranten“: EU will Migrationspakt mit Tunesien

Das hindert die EU nicht daran, Tunesien als sicheres Herkunftsland einzustufen. Der Vorsitzende der Europäische Volkspartei (EVP) Manfred Weber warb im April für einen Flüchtlingspakt nach Vorbild des Türkei-Abkommens. Man müsse „Schlepperbanden gemeinsam das Handwerk“ legen, und „hunderttausende illegale Migranten“, die ausreisepflichtig seien, in ihre Heimatländer zurückführen, so Weber. Auch die Bundesregierung befürwortet ein solches Abkommen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warb im Juni beim tunesischen Präsidenten um eine Zusammenarbeit. Die SPD-Politikerin hatte angegeben, ein Ziel sei, „das furchtbare Sterben im Mittelmeer zu beenden“. Gleichzeitig sollen Abschiebungen in das arabische Land vereinfacht werden.

Menschenrechtsorganisation warnen jedoch immer wieder vor dem Schritt. In einer von 69 Initiativen herausgegebenen Erklärung heißt es, Tunesien sei „weder ein sicheres Herkunftsland noch ein sicheres Drittland“. Vor allem Menschen mit schwarzer Hautfarbe seien Gewalt und Verfolgung ausgesetzt. „Sie sind rassistischen Kontrollen von Sicherheitskräften ausgesetzt und werden willkürlich inhaftiert“, so die Erklärung. Zudem fehle es im Land an Gütern des täglichen Bedarfs, auch die Wassernutzung sei aufgrund von Dürreperioden stark eingeschränkt. Die Organisationen fordern, dass die EU ihre finanzielle und technische Unterstützung für die tunesische Küstenwache einstellt. Europa trage eine Mitschuld an den Toten an seiner Grenze.

Poker um Menschenleben: Die EU verhandelt mit dem tunesischen Autokraten

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) hatte Tunesien im Juni„verstärkte Partnerschaft“ und Finanzhilfen in Höhe von über einer Milliarde Euro in Aussicht gestellt. Die Grünen kritisierten das Bestreben. Mit dem Geld soll vor allem Tunesiens Kampf gegen irreguläre Migration unterstützt werden. Präsident Saied wisse jedoch um seine Schlüsselrolle und treibe den Preis in die Höhe, schrieb das Nachrichtenportal ntv. Sein Land werde nicht die Grenzpolizei für Europa spielen, so der tunesische Staatschef. „Faktisch wollen wir Saied als neuen Türsteher Europas anheuern. Und der lässt sich das so teuer wie möglich bezahlen“, habe ein Diplomat aus Brüssel die Lage beschrieben.

Mache Türen gehen auf, während andere sich schließen: Mark Rutte, Kais Saied und Ursula von der Leyen (vl) bei den Sondierungen zum Migrationsabkommen zwischen Tunesien und der EU.

In der Tat sei fragwürdig, ob der tunesische Autokrat für Brüssel eine gute Partie sei, so das Newsportal. Zum einen sei die politische Lage in Tunesien angespannt, zum anderen sei Saied „nicht gerade ein Menschenrechtsfreund und Demokrat“. Er gelte als „Schwulenverfolger, Israelhasser und Islamist im Anzug“, sei für die Todesstrafe und gegen die gleiche Berücksichtigung von Frauen im Erbrecht. Zudem lehne er eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel nicht nur ab, er bezeichne sie sogar als „Verrat“. Zusammen mit Mahmud Abbas habe er vor einer Karte posiert, von der Israel getilgt worden war.

Weit weg von einer lupenreinen Demokratie: Reform- und Modernisierungsprozesse in Tunesien scheitern

Die wirtschaftliche Lage bleibt derweil miserabel, Massenarbeitslosigkeit hat Tunesien fest im Griff. Die Überreste des arabischen Frühlings hat der Präsident beseitigt, er inhaftiert Oppositionelle, Journalisten und Gewerkschafter. 2021 hatte Saied in einem kalten Staatsstreich das Parlament entlassen. Seitdem regiert er als Autokrat per Verordnungen. „Tunesien ist Schwerpunktland der Ta’ziz Partnerschaft für Demokratie. Dadurch unterstützt Deutschland Reform- und Modernisierungsprozesse, politische Kulturarbeit und insbesondere Initiativen der tunesischen Zivilgesellschaft zu Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe“, heißt es auf der Website des Auswärtigen Amts. Diese Bemühungen scheinen geradezu in der tunesischen Wüste zu versanden. (Tadhg Nagel)

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