Eskalation in Nahost

„Fehlkalkulation“: Israel rechnete offenbar nicht mit Großangriff des Irans

  • Florian Neuroth
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Israel soll von dem Großangriff des Iran überrascht worden sein. Die Israelis hätten sich laut Quellen aus US-Regierungskreisen „schwer verkalkuliert“.

New York – Mit dem Luftangriff des Iran auf Israel am späten Samstagabend (13. April) sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf einem Tiefpunkt angelangt. Erstmalig in der Geschichte hatte das Mullah-Regime Israel direkt angegriffen – nach Jahrzehnten, in denen die Feindschaft vor allem verbal oder über Stellvertreter ausgetragen worden war. Am Freitagmorgen (19. April) wurden dann Explosionen aus dem Iran gemeldet. Der Gegenschlag aus Israel war seit Tagen erwartet worden.

Doch war diese Eskalation im Nahen Osten vermeidbar. Medienberichten zufolge sollen die Israelis von der Reaktion des Iran überrascht worden sein. Demnach rechnete Tel Aviv nämlich nicht damit, dass Teheran nach der Attacke auf die iranische Botschaft in Syrien derart stark zurückschlagen würde – und hat sich mit der Aktion in Damaskus „schwer verkalkuliert“.

In Teheran werden zum Tag der Armee Raketen auf Lastwagen transportiert. Am vergangenen Wochenende hat der Iran mit Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern Israel angegriffen und Tel Aviv damit wohl überrascht. Laut einem Medienbericht rechneten die Israelis nicht mit dem Großangriff und hätten sich „schwer verkalkuliert“.

Israel soll Folgen des mutmaßlichen Angriffs auf iranische Botschaft völlig falsch eingeschätzt haben

Das schreibt die New York Times und beruft sich dabei auf US-Regierungskreise und einen hochrangigen israelischen Beamten. Demnach hätten die Israelis zugegeben, die Folgen des Angriffs völlig falsch eingeschätzt zu haben. Und selbst nachdem klar geworden war, dass Iran Vergeltung üben würde, wären Israel und die USA noch davon ausgegangen, dass das Ausmaß der Reaktion recht begrenzt sein würde. Diese Einschätzung mussten sie in den Tagen vor dem iranischen Angriff wohl mehrfach revidieren.

Laut dem Bericht, der auf Gesprächen mit hochrangigen Regierungsvertretern aus den USA, Israel, Iran und anderen Staaten des Nahen Ostens basieren soll, hatte Israel den Luftangriff auf die iranische Botschaft bereits zwei Monate vorher geplant. Rund eine Woche vor der Attacke habe das israelische Kriegskabinett die Operation dann am 22. März genehmigt. Das Ziel sei Mohammad Reza Zahedi, Kommandeur der iranischen Qods-Brigade für Syrien und den Libanon, gewesen. Zahedi ist laut New York Times bei dem Angriff, für den Israel offiziell keine Verantwortung übernommen hat, getötet worden, ebenso wie sechs weitere iranische Offiziere.

Israel hat die USA laut Bericht nur kurz vor Angriff auf Botschaft des Iran informiert

Brisant: Wie die Zeitung schreibt, hat Israel die USA offenbar nur wenige Augenblicke vor dem Angriff informiert. Die Amerikaner seien sauer auf ihren Verbündeten. Verteidigungsminister Lloyd J. Austin III habe sich laut US-Beamten in einem Anruf am 3. April direkt beim israelischen Verteidigungsminister, Yoav Gallant, beschwert. Austin sah dadurch und aufgrund der kurzen Vorwarnzeit wohl die Sicherheit der US-Streitkräfte in der Region gefährdet.

Die Israelis hätten derweil nur mit kleineren Vergeltungsschlägen von Stellvertretern oder einer begrenzten Attacke des Irans gerechnet. Wenige Tage vor dem iranischen Angriff sei ihnen klargeworden, dass der Iran etwas viel Größeres im Sinn hatte, und die Israelis hätten ihre Schätzung auf 60 bis 70 Boden-Boden-Raketen erhöht. Letztlich schickte der Iran allerdings mehr als 500 Drohnen, Raketen und Marschflugkörper auf die Reise.

Vorausgegangen war hektische diplomatische Betriebsamkeit und eine „ungewöhnlich offene und breite diplomatische Kampagne“ des Iran, wie die Zeitung schreibt. Über die Vermittlung Omans habe der Iran mitgeteilt, dass er zurückschlagen müsse, seinen Angriff jedoch unter Kontrolle halten werde und keinen regionalen Krieg anstrebe. Experten gehen davon aus, dass das Mullah-Regime kein Interesse daran hat, in einen größeren Krieg hineingezogen zu werden. Ein Krieg mit Israel könnte für die Regierung schwere Folgen haben.

Laut Bericht wollten einige israelische Politiker direkt nach iranischem Angriff zurückschlagen

Wie die Zeitung schreibt, habe US-Außenminister Antony J. Blinken vorab mit hochrangigen israelischen Kabinettsmitgliedern gesprochen und ihnen nicht nur die Hilfe der USA zugesichert, sondern auch gefordert, keinen überstürzten Gegenschlag zu starten. Dazu ist es laut New York Times fast gekommen. Nach Bekanntwerden der iranischen Raketenstarts hätten sich führende israelische Politiker für einen sofortigen Vergeltungsschlag ausgesprochen. Ob des begrenzten Schadens – rund 99 Prozent der Flugkörper konnten Israel und seine Verbündeten abfangen – habe das Kriegskabinett die Entscheidung jedoch verschoben.

Wie und wann Israel reagiert, ist dabei weiter unklar. Laut dem US-Sender ABC rechnet die US-Regierung nicht vor Ende des Monats mit einem Gegenangriff auf den Iran. Es sei unwahrscheinlich, dass Israel vor dem Pessach-Fest einen Angriff auf den Iran durchführen werde, zitiert der Sender einen namentlich nicht genannten hochrangigen US-Beamten. Allerdings könne sich das jederzeit ändern. Pessach beginnt am Montag (22. April) und endet nach Einbruch der Dunkelheit am 30. April.

Die Revolutionsgarden im Iran und andere Führungskräfte seien in höchster Alarmbereitschaft, sagte der Regierungsbeamte dem Bericht zufolge. Einige hielten sich an sicheren Orten oder in unterirdischen Schutzräumen auf. Der Sender berichtete gleichzeitig unter Berufung auf drei israelische Regierungsvertreter, Israel habe sich in dieser Woche in mindestens zwei Nächten auf Vergeltungsschläge gegen den Iran vorbereitet, diese aber dann wieder abgeblasen.

Sorgen vor Ausbreiten des Konflikts zwischen Iran und Israel

ABC berichtete, dem israelischen Kriegskabinett seien unterschiedliche Optionen eines Gegenschlags vorgestellt worden. Darunter seien auch Angriffe auf Verbündete des Irans in der Region, aber nicht auf iranischem Boden, oder mögliche Cyberangriffe. Die USA und die EU haben Israel und den Iran zum Verzicht auf weitere gegenseitige Angriffe aufgerufen.

Die Sorge ist groß, dass sich der Konflikt bei einem harten israelischen Gegenschlag weiter ausbreiten könnte. Irans Präsident Ebrahim Raisi hatte am Mittwoch erneut vor einer „verheerenden“ Antwort seines Landes gewarnt, sollte Israel auch nur die geringste „Aggression“ gegen den Iran ausüben.

Nach Angaben des iranischen Außenministers hat das Land den USA aber versichert, die Lage nicht weiter verschärfen zu wollen. Teheran habe versucht, Washington gegenüber „deutlich zu machen, dass wir nicht auf eine Ausweitung der Spannungen in der Region aus sind“, zitiert die Agentur AFP den iranischen Außenminister Hossein Amir-Abdollahian. Die Frage ist nur: Wie wird das Regime auf den israelischen Gegenschlag reagieren? (flon, dpa)

Rubriklistenbild: © Vahid Salemi/AP/dpa

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