Erstwähler vor der Europawahl
„Wirkt auf mich irritierend“: Warum junge Menschen der AfD zutrauen, die Probleme in Europa zu lösen
VonFlorian Pfitznerschließen
Von den erstmals Wahlberechtigten trauen vor der Europawahl verhältnismäßig viele der AfD am ehesten zu, europäische Probleme zu lösen. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer erklärt, woran das liegen könnte.
Berlin - Dass Erstwählerinnen und Erstwähler bei der Europawahl der AfD häufig am ehesten zutrauen, europäische Probleme zu lösen, ruft bei einem der profiliertesten deutschen Soziologen Verwunderung hervor. „Auf mich wirkt es ziemlich irritierend, dass ausgerechnet der AfD gewisse Kompetenzen zugeschrieben werden, wenn es um Europa geht – zumal sie sich generell gegen die EU positioniert”, sagt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, Senior Professor an der Universität Bielefeld, im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. „Von jenen, die zu dieser Meinung neigen, scheinen nur wenige zu wissen, welche Errungenschaften die Europäische Union hervorgebracht hat.“
Zur Europawahl am 9. Juni werden in Deutschland zum ersten Mal auch 16- und 17-jährige Wählerinnen und Wähler aufgerufen. Von den erstmals Wahlberechtigten trauen jeweils 14 Prozent AfD und SPD am ehesten zu, die Probleme in Europa zu lösen. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) hervor. In der Bevölkerung insgesamt liegt die CDU/CSU bei der europapolitischen Kompetenz vorn. 22 Prozent nennen die Union. Die größte Gruppe sieht keine Partei in der Lage, die Probleme in Europa zu lösen, oder ihnen fehlt dazu eine passende Antwort (zusammen 42 Prozent).
In der jungen Wählerkohorte (16 bis 22 Jahre) wird die AfD deutlich häufiger genannt als in der Gesamtbevölkerung. Aus Sicht des Soziologen Heitmeyer trifft vor allem ihre Erzählung einer größeren Souveränität der Nationalstaaten auf die Befindlichkeiten einiger junger Menschen. „Das Autoritäre, das Nationalistische und das Radikale als zentrale politische Kennzeichen der AfD wirken auf manche Erstwähler durchaus attraktiv“, erklärt der Wissenschaftler vom Institut für Konflikt- und Gewaltforschung. „Dahinter stecken Eigenschaften wie Überlegenheit und Macht, die gerade bei heranwachsenden Männern verfangen können.“
Der Kulturkampf der AfD
Die in der Studie gemessene europapolitischen Kompetenzzuschreibungen entsprechen nicht unbedingt dem Wahlverhalten der Generation Z. So erzielten FDP, Linke und Grüne bei der Bundestagswahl 2021 in der jüngsten Wählergruppe (18 bis 24 Jahre) bessere Ergebnisse als in der gesamten Wählerschaft, wie die KAS hervorhebt. Dagegen schnitten CDU/CSU, SPD und AfD in der jüngsten Wählergruppe eindeutig schlechter ab als bei allen Wahlberechtigten.
In Bayern und Hessen hat das bei den Landtagswahlen im Herbst 2023 anders ausgesehen, wendet Heitmeyer ein. „In diesen Ländern hatte die AfD unter den 18- bis 24-jährigen Wählern die größten Zuwächse“, sagt er. „Die Demokratie gerät global in Bedrängnis, wie zuletzt etwa eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung gezeigt hat. Ein Teil unserer Jugend reiht sich in diesen Trend ein“, warnt der Soziologe. „In diesem Prozess geht es immer darum, sich selbst aufzuwerten, indem man andere abwertet. Offenbar gibt es auch in Deutschland nicht wenige junge Menschen, die sich zulasten anderer profilieren wollen – und dies auch politisch zugunsten des Kulturkampfes der AfD zum Ausdruck bringen.”
Woher kommt das? Heitmeyer hat dazu zwei Erklärungsansätze: Zum einen begründet er die Neigung zu autoritären Mustern unter jungen Menschen mit der stetigen Abfolge von Krisen in den vergangenen zwanzig Jahren. „Krisen sind Treiber des Autoritären. Sie führen enttäuschte Erwartungen im Gepäck und lösen Verunsicherung und Ängste aus.“
Das Grundbedürfnis nach Kontrolle
Vor allem die Veränderungen, die mit einer Krise einhergehen, können zu Verunsicherungen führen. „Was einem lange Sicherheit gespendet hat, löst sich plötzlich in Luft auf“, erklärt Heitmeyer. „Daraus ergeben sich wahrgenommene, tatsächlich erfahrene oder befürchtete Kontrollverluste.“ An dieser Stelle setze die AfD an – mit dem Versprechen, die Kontrolle durch eine autoritäre Gesellschaftspolitik wiederherzustellen. Man erinnert sich an den Werbeslogan der Brexit-Befürworter in Großbritannien: „Take back control“. Eigentlich handelt es sich um ein Grundbedürfnis. Wer will schon sich zugestehen, dass ein Leben außer Kontrolle geraten ist?
Hinzu kommt, dass die AfD auf den digitalen Plattformen gegenüber anderen Parteien weit vorne liegt. „Auch hier setzt diese Partei voll auf Emotionalisierung“, erläutert Heitmeyer. Der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, verbinde Aussagen zu den gewohnten Geschlechterrollen und der traditionellen Familie mit einem völkischen Gesellschaftsbild, das bei genauerer Anschauung von fragiler Männlichkeit geprägt sei. „Auf TikTok werden solche gefühlig aufgeladenen Inhalte vielfach aufgerufen“, sagt Heitmeyer. „Sachpolitische Inhalte werden dagegen deutlich seltener geklickt und erreichen so auch deutlich weniger Reichweite. Das ist auf Dauer sehr gefährlich.“