Erdogan und Putin auf dem Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
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Der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, pflegt ein gutes Verhältnis zu Wladimir Putin. Jetzt will er neben Russland und China in das SCO-Bündnis eintreten.

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Erdogans Teufelspakt: Warum Putin ihm die Türkei-Wahl retten könnte

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Die Vernunftehe der Türkei mit Russland könnte Erdogan das geben, was er für die Türkei-Wahl braucht. Doch langfristig droht ein Drahtseilakt.

  • Recep Tayyip Erdogan steht vor der kommenden Türkei-Wahl unter Druck.
  • Zumindest eine Teillösung für Probleme findet er in Zusammenarbeit mit Wladimir Putin.
  • Doch die „Vernunftehe“ zwischen Türkei und Russland ist ein politischer Drahtseilakt, analysiert Nahost-Journalistin Stefanie Glinski.
  • Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 6. März 2023 das Magazin Foreign Policy.

Istanbul - Seit dem Beginn der groß angelegten Invasion in der Ukraine hat Russland die Türkei mit Menschen und Geld versorgt und im Gegenzug viele Vorteile erhalten. Im vergangenen Jahr sind Russen in Scharen in die Türkei geströmt. Viele kaufen Immobilien, während andere gekommen sind, um der Einberufung zur Armee zu entgehen, ihre Ersparnisse außerhalb der wegen des Ukraine-Kriegs des russischen Präsidenten Wladimir Putin sanktionierten Wirtschaft anzulegen oder Unternehmen zu gründen.

Allein 2022 eröffneten Russen 1.363 neue Unternehmen in der Türkei. In den Einwanderungsämtern der größten türkischen Städte beantragen jetzt vor allem Russen eine Aufenthaltsgenehmigung, und mehr als 155.000 von ihnen wurden nach Angaben der türkischen Regierung erteilt. 

Die Türkei und ihre Wirtschaft haben die Neuankömmlinge und ihr Geld weitgehend willkommen geheißen. In gewissem Maße haben sie – zumindest vorübergehend – das Gesicht türkischer Städte wie Istanbul oder Antalya verändert. Die Mieten sind in die Höhe geschossen, aber die Erdgaspreise sind niedrig geblieben. Die Cafés sind voll mit russischen Besuchern, und sogar Werbetafeln sind jetzt gelegentlich in Kyrillisch geschrieben.

Erdogans Deal mit dem Teufel: Russische Unterstützung könnte bei der Türkei-Wahl helfen

Für die Türkei ist die Aufrechterhaltung und sogar Vertiefung der Beziehungen zu Russland bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer Stellung als eines der größten Nato-Mitglieder ein schwieriger, aber dringend notwendiger Balanceakt. Die Türkei ist zwischen dem Iran und dem Westen eingeklemmt, hat eine Landgrenze zu Syrien, kontrolliert den einzigen Zugang zum Schwarzen Meer und hat eine Seegrenze zur Ukraine und zu Russland. Seit Beginn des Krieges ist es der Türkei gelungen, sowohl das ukrainische Militär als auch Russlands vom Krieg zerrüttete Wirtschaft zu stützen. 

An der Nordküste hat die Türkei die Ukraine mit Drohnen beliefert, die mit großem Erfolg gegen die russischen Streitkräfte eingesetzt werden, und sie hat bei der Aushandlung eines Abkommens geholfen, das die Verschiffung ukrainischen Getreides aus den Schwarzmeerhäfen ermöglicht. Gleichzeitig hat die Türkei ihre Käufe von russischem Gas und Öl erhöht und teilweise dazu beigetragen, Moskau vor strafenden Sanktionen zu schützen.

Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist es ein Teufelsgeschäft, geboren aus seinen eigenen geopolitischen, politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen. Erdogan steht im Mai vor seiner vielleicht schwierigsten Wahl, und die russische Unterstützung könnte ihm dabei helfen.

Türkei und Russland: Erdogan zwischen Schwarzmeer-Sorgen und Syrien-Kalkül

„Russland und die Türkei: Das ist eine Vernunftehe“, sagt Alper Coskun, Senior Fellow bei der Carnegie Endowment for International Peace. Es ist sicherlich keine einfache Ehe.

Im Jahr 2015 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den beiden Ländern, als die Türkei einen russischen Jet abschoss, der ihren Luftraum im Südosten der Türkei an der syrischen Grenze verletzt hatte. Im Juni 2016 entschuldigte sich Erdogan und signalisierte seine Bereitschaft, die Beziehungen wiederherzustellen. Einen Monat später bot Russland Erdogan nach einem gescheiterten Putschversuch in der Türkei Hilfe an. 

Für die Türkei bietet Russland eine Chance, stellt aber auch eine Bedrohung dar. Ein aggressives Russland, das die ukrainischen Küstenstädte kontrolliert, ist sicherlich nicht im Interesse der Türkei, aber auch nicht der Aufbau eines kurdischen Staates in Nordsyrien. Seit 2014 unterstützen die Vereinigten Staaten kurdische Kämpfer in Nordsyrien, während die Türkei behauptet, die kurdischen Milizen hätten enge Verbindungen zur militant-politischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von der Türkei, den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union als terroristische Organisation eingestuft wird. Russland steht in Syrien auf der anderen Seite und unterstützt den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. 

Türkei-Wahl 2023: Naht das Ende der Ära Erdogan?

Seit 20 Jahren ist Recep Tayyip Erdogan in der Türkei an der Macht. Von 2003 an bestimmte er die Geschicke des Landes zunächst als Ministerpräsident, ehe er 2014 das Amt des Staatspräsidenten übernahm. Damals erhielt er bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der stimmen. Bei der Wahl 2018 wiederholte er seinen Erfolg. Amtsmüde ist Erdogan noch lange nicht. Am 14. Mai 2023 tritt Erdogan erneut bei der Wahl zum Präsidenten an, der gleichzeitig Regierungschef ist. Zudem findet auch die Parlamentswahl statt.
Seit 20 Jahren ist Recep Tayyip Erdogan in der Türkei an der Macht. Von 2003 an bestimmte er die Geschicke des Landes zunächst als Ministerpräsident, ehe er 2014 das Amt des Staatspräsidenten übernahm. Damals erhielt er bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen. Bei der Wahl 2018 wiederholte er seinen Erfolg. Amtsmüde ist Erdogan noch lange nicht. Am 14. Mai 2023 tritt Erdogan erneut bei der Wahl zum Präsidenten an, der gleichzeitig Regierungschef ist. Zudem findet auch die Parlamentswahl statt. © Imago
Erdogan wird mit seiner islamisch-konservativen AKP wieder im Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP antreten. Ein Teil der Opposition hat sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen („Sechser-Tisch“), zu dem unter anderem die größte Oppositionspartei CHP und die nationalkonservative Iyi-Partei gehören. Ein weiteres Bündnis bildet die pro-kurdische Oppositionspartei HDP mit kleineren Parteien.
Erdogan wird mit seiner islamisch-konservativen AKP wieder im Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP antreten. Ein Teil der Opposition hat sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen („Sechser-Tisch“), zu dem unter anderem die größte Oppositionspartei CHP und die nationalkonservative Iyi-Partei gehören. Ein weiteres Bündnis bildet die pro-kurdische Oppositionspartei HDP mit kleineren Parteien. © Adem Altan/afp
Die Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei gelten diesmal allerdings als ernsthafte Bewährungsprobe für Erdogan. Er selbst spricht von einer „Schicksalswahl“. Tatsächlich ist aktuellen Umfragen zufolge seine Wiederwahl alles andere als sicher. Seine Werte stecken bereits seit Monaten in einem Tief, bei den Wahlen geht Erdogan erstmals nicht als klarer Favorit ins Rennen.
Die Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei gelten diesmal allerdings als ernsthafte Bewährungsprobe für Erdogan. Er selbst spricht von einer „Schicksalswahl“. Tatsächlich ist aktuellen Umfragen zufolge seine Wiederwahl alles andere als sicher. Seine Werte stecken bereits seit Monaten in einem Tief, bei den Wahlen geht Erdogan erstmals nicht als klarer Favorit ins Rennen. © Adem Altan/afp
Das Meinungstief, in dem sich Erdogan seit geraumer Zeit befindet, mag auch ein Grund für seine Entscheidung gewesen sein, die Wahlen, die eigentlich im Juni hätten stattfinden sollen, um mehrere Wochen vorzuziehen. Die Regierung begründete die Verlegung der Wahl unter anderem mit der Pilger- und Ferienzeit. Allerdings vermuteten Fachleute hinter dem Plan, den Erdogan erstmals im Januar ins Spiel brachte, von Beginn an vor allem wahltaktische Gründe.
Das Meinungstief, in dem sich Erdogan seit geraumer Zeit befindet, mag auch ein Grund für seine Entscheidung gewesen sein, die Wahlen, die eigentlich im Juni hätten stattfinden sollen, um mehrere Wochen vorzuziehen. Die Regierung begründete die Verlegung der Wahl unter anderem mit der Pilger- und Ferienzeit. Allerdings vermuteten Fachleute hinter dem Plan, den Erdogan erstmals im Januar ins Spiel brachte, von Beginn an vor allem wahltaktische Gründe. © Adem Altan/afp
Zu den drängendsten Problemen der Menschen in der Türkei gehören die schlechte Wirtschaftslage und die Inflation, die offiziell mehr als 60 Prozent beträgt. Unabhängige Fachleute bezweifeln allerdings die offiziellen Inflationszahlen. So kamen sie im November 2022 auf eine Teuerung von 170,7 Prozent. Die Opposition geht deshalb davon aus, dass Erdogan die Wahl hinter sich bringen will, damit Wahlgeschenke wie etwa die Verdopplung des Mindestlohns vor dem Hintergrund der starken Inflation nicht verpuffen.
Zu den drängendsten Problemen der Menschen in der Türkei gehören die schlechte Wirtschaftslage und die Inflation, die offiziell mehr als 60 Prozent beträgt. Unabhängige Fachleute bezweifeln allerdings die offiziellen Inflationszahlen. So kamen sie im November 2022 auf eine Teuerung von 170,7 Prozent. Die Opposition geht deshalb davon aus, dass Erdogan die Wahl hinter sich bringen will, damit Wahlgeschenke wie etwa die Verdopplung des Mindestlohns vor dem Hintergrund der starken Inflation nicht verpuffen. © Adem Altan/afp
Die Parlaments- und Präsidentenwahlen stehen inzwischen allerdings auch im Zeichen der verheerenden Erdbeben am 6. Februar, die allein in der Türkei mehr als 47.000 Menschen getötet und etliche vertrieben und obdachlos gemacht haben. Laut Regierungsangaben wurden durch die Beben 230.000 Gebäude zerstört oder unnutzbar. Mehr als drei Millionen Menschen sind demnach aus der Region evakuiert worden, mindestens 1,5 Millionen leben in Zelten.
Die Parlaments- und Präsidentenwahlen stehen inzwischen allerdings auch im Zeichen der verheerenden Erdbeben am 6. Februar, die allein in der Türkei mehr als 47.000 Menschen getötet und etliche vertrieben und obdachlos gemacht haben. Laut Regierungsangaben wurden durch die Beben 230.000 Gebäude zerstört oder unnutzbar. Mehr als drei Millionen Menschen sind demnach aus der Region evakuiert worden, mindestens 1,5 Millionen leben in Zelten. © Bulent Kilic/afp
Seit den schweren Erdbeben muss sich die Regierung scharfer Kritik an ihrem Krisenmanagement stellen. Vielerorts wurde beklagt, dass Rettungsteams zu spät, in zu geringer Zahl und mit zu wenig Ausrüstung in die Krisenregion gekommen seien. Unter Trümmern verschüttete Menschen hätten so nicht gerettet werden können. In den Erdbebengebieten herrschten vielerorts Minusgrade, viele der Eingeschlossenen erfroren.
Seit den schweren Erdbeben muss sich die Regierung scharfer Kritik an ihrem Krisenmanagement stellen. Vielerorts wurde beklagt, dass Rettungsteams zu spät, in zu geringer Zahl und mit zu wenig Ausrüstung in die Krisenregion gekommen seien. Unter Trümmern verschüttete Menschen hätten so nicht gerettet werden können. In den Erdbebengebieten herrschten vielerorts Minusgrade, viele der Eingeschlossenen erfroren. © Bulent Kilic/afp
Die Kritik an der Regierung nach den schweren Erdbeben traf auch Erdogan persönlich. Ende Februar, also rund drei Wochen nach den Beben, entschuldigte sich Erdogan erstmals bei den Menschen dafür und bat um Vergebung für Verzögerungen bei der Erbeben-Hilfe. Erdogan räumte Versäumnisse ein und sagte bei einem Besuch in Adiyaman, aufgrund der großen Zerstörung, der Wetterbedingungen und der Schäden an der Infrastruktur habe man in den ersten Tagen nicht in der „gewünschten Effektivität“ arbeiten können. „Wie jeder Sterbliche können auch wir Fehler, Mängel und Makel haben.“
Die Kritik an der Regierung nach den schweren Erdbeben traf auch Erdogan persönlich. Ende Februar, also rund drei Wochen nach den Beben, entschuldigte sich Erdogan erstmals bei den Menschen dafür und bat um Vergebung für Verzögerungen bei der Erbeben-Hilfe. Erdogan räumte Versäumnisse ein und sagte bei einem Besuch in Adiyaman, aufgrund der großen Zerstörung, der Wetterbedingungen und der Schäden an der Infrastruktur habe man in den ersten Tagen nicht in der „gewünschten Effektivität“ arbeiten können. „Wie jeder Sterbliche können auch wir Fehler, Mängel und Makel haben.“ © Adem Altan/afp
Erdogan bat zudem „um ein Jahr“ Zeit, um „die Wunden des Erdbebens zum Großteil“ zu heilen. Die Opposition kritisierte dagegen den Vorstoß des türkischen Präsidenten. Man nehme die Entschuldigung nicht an, schrieb etwa die prokurdische Partei HDP auf Twitter. Ali Babacan, der Chef der Oppositionspartei Deva, erklärte rundheraus, Erdogan könne der Verantwortung nicht entkommen.
Erdogan bat zudem „um ein Jahr“ Zeit, um „die Wunden des Erdbebens zum Großteil“ zu heilen. Die Opposition kritisierte dagegen den Vorstoß des türkischen Präsidenten. Man nehme die Entschuldigung nicht an, schrieb etwa die prokurdische Partei HDP auf Twitter. Ali Babacan, der Chef der Oppositionspartei Deva, erklärte rundheraus, Erdogan könne der Verantwortung nicht entkommen. © Press Office of the Presidency of Turkey/afp
Auch Erdogans Hauptrivale im Kampf um das Präsidentenamt macht Erdogan für die Folgen verantwortlich. „Sie waren in allen möglichen Dingen untätig, so wie hier auch“, sagte Kemal Kilicdaroglu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. „Sie haben wirklich keine Ahnung, wie man einen Staat regiert. Ich sage es ganz offen: Wenn jemand hauptverantwortlich für diese Folgen ist, dann ist es Erdogan.“
Auch Erdogans Hauptrivale im Kampf um das Präsidentenamt macht Erdogan für die Folgen verantwortlich. „Sie waren in allen möglichen Dingen untätig, so wie hier auch“, sagte Kemal Kilicdaroglu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. „Sie haben wirklich keine Ahnung, wie man einen Staat regiert. Ich sage es ganz offen: Wenn jemand hauptverantwortlich für diese Folgen ist, dann ist es Erdogan.“ © Yasin Akgul/afp
Erdogan kontert, indem er seinen stärksten Herausforderer Wahlen wegen Treffen mit der prokurdischen Partei HDP scharf kritisiert. Kilicdaroglu habe den parlamentarischen Arm einer „Terrororganisation“ zum Partner gemacht, sagte Erdogan. Die HDP, die bei der Präsidentenwahl keinen eigenen Kandidaten aufstellt, dürfte die Bewerbung Kilicdaroglus unterstützen. Die HDP-Stimmen könnten entscheidend sein.
Erdogan kontert, indem er seinen stärksten Herausforderer Wahlen wegen Treffen mit der prokurdischen Partei HDP scharf kritisiert. Kilicdaroglu habe den parlamentarischen Arm einer „Terrororganisation“ zum Partner gemacht, sagte Erdogan. Die HDP, die bei der Präsidentenwahl keinen eigenen Kandidaten aufstellt, dürfte die Bewerbung Kilicdaroglus unterstützen. Die HDP-Stimmen könnten entscheidend sein. © Francisco Seco/dpa
Ob die Opposition Erdogan wirklich besiegen kann, kommt auf verschiedene Faktoren an. Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaft spielt ihr in die Hände. Die Sechser-Allianz hat es zudem geschafft, Politiker unterschiedlicher Ideologien zusammenzubringen - darunter ehemalige Anhänger Erdogans. Ihr Ziel ist, das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie zu überführen und das Präsidialsystem abzuschaffen, unter dem der Präsident weitreichende Befugnisse hat.
Ob die Opposition Erdogan wirklich besiegen kann, kommt auf verschiedene Faktoren an. Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaft spielt ihr in die Hände. Die Sechser-Allianz hat es zudem geschafft, Politiker unterschiedlicher Ideologien zusammenzubringen - darunter ehemalige Anhänger Erdogans. Ihr Ziel ist, das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie zu überführen und das Präsidialsystem abzuschaffen, unter dem der Präsident weitreichende Befugnisse hat. © Yasin Akgul/afp

Erdogans Türkei hilft der Ukraine im Krieg: In „erträglichem Maß“ für den Kreml

Die Unterstützung der Türkei für die Ukraine ist jedoch kein entscheidender Faktor in diesem Krieg, so der unabhängige Moskauer Russland-Experte Kerim Has. „Die militärische Hilfe ist sicherlich vorhanden und sollte nicht unterschätzt werden, aber sie überschreitet nicht die roten Linien Moskaus. Die Türkei schickt keine Panzer oder Kampfflugzeuge. Das ist ein erträgliches Maß für den Kreml.“

In wirtschaftlicher Hinsicht hat Russland, vor allem seit seinem umfassenden Einmarsch in der Ukraine, die türkische Wirtschaft mit enormen Kapitalzuflüssen gestützt und sogar ein Auge zugedrückt, als Ankara Kiew in begrenztem Umfang militärisch unterstützte. Die beiden Länder verhandeln derzeit über einen möglichen Gasrabatt, und die Türkei hat Russland gebeten, die Gaszahlungen bis 2024 zu verschieben, was zumindest eine vorübergehende wirtschaftliche Entlastung bedeuten würde. 

Es ist immer noch eine Zweibahnstraße. Für den isolierten und sanktionierten Kreml ist die Türkei zu einem sicheren Finanzhafen geworden. Im vergangenen Jahr belief sich das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern auf schätzungsweise 70 Milliarden Dollar, wobei die Türkei einer der größten Handelspartner Russlands ist. Gleichzeitig versuchen Hunderte von westlichen Unternehmen, die Sanktionen zu umgehen, indem sie Büros in der Türkei eröffnen, um den Handel mit Russland fortzusetzen, wie die türkische Zeitung Hurriyet Daily News berichtet. 

Erdogan ist Putins einzige Option - die Türkei ist auf russisches Gas angewiesen

Vor den Wahlen in der Türkei am 14. Mai sind Putins Schritte zur Stärkung Erdogans seine beste Chance. „Putin hat eigentlich keine andere Wahl, also ist es ein pragmatischer Ansatz“, sagt Has. „Erdogan ist zwar nicht immer ein verlässlicher Partner für Moskau, aber Putin hat keine bessere Möglichkeit, um mit der Türkei und darüber hinaus zusammenzuarbeiten: Alle anderen Alternativen sind eher pro-westliche Führer.“

Auch in der Türkei regiert der Pragmatismus. Geografisch und militärisch gehört die Türkei zum westlichen Block und ist ein wichtiger Verbündeter des Westens, aber wirtschaftlich hat die Türkei keine andere Möglichkeit, als mit Russland zusammenzuarbeiten. „Wenn Russland die Gaslieferungen an die Türkei kürzt, wäre das eine Katastrophe“, so Has. „Wenn die türkische Wirtschaft zusammenbricht, werden auch die europäischen Banken im Rahmen der von der Türkei aufgenommenen Kredite in Mitleidenschaft gezogen.“

Putin-Erdogan-„Ehe“ vor Schwierigkeiten? „Auf lange Sicht bleibt Russland ein Konkurrent“

Doch wie bei allen Ehen - ob es sich um eine Vernunftehe handelt oder nicht - gibt es eine lange Geschichte und potenzielle Reibereien am Horizont. Erdogan erkennt Russland als eine Realität in der Schwarzmeerregion an, zumal die Vereinigten Staaten wirtschaftlich und militärisch weitgehend abwesend sind. „Erdogan hat sich darauf eingestellt: die USA verlagert ihren Schwerpunkts weg von der Schwarzmeerregion“, eklärt Muhammet Kocak, ein unabhängiger außenpolitischer Analyst aus Ankara.

Dennoch könnten historische Feindschaften und langfristige Rivalitäten wiederkehren und die heutige unmittelbare wirtschaftliche und politische Symbiose aushebeln, sagt er.

„Aufgrund ihrer Partnerschaft mit Russland hat die Türkei ihre unmittelbaren, vor allem mit Syrien zusammenhängenden Sicherheitsprobleme in Angriff genommen, schätzt aber gleichzeitig die Nato-Mitgliedschaft und das Sicherheitsbündnis mit dem Westen“, fügt Kocak hinzu. „Auf lange Sicht bleibt Russland ein historischer Konkurrent und eine Bedrohung für die Sicherheit der Türkei. Diese Dynamik wiegt wahrscheinlich schwerer als die wirtschaftlichen Vorteile.“

Von Stefanie Glinski

Stefanie Glinski ist Journalistin und berichtet über Konflikte und Krisen mit Schwerpunkt auf Afghanistan und dem Nahen Osten. Twitter: @stephglinski

Dieser Artikel war zuerst am 06. März 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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