Europawahl
Warum alle Parteien außer der AfD kaum etwas zum Thema Migration sagen
VonPeter Siebenschließen
Das Thema Migration spielt bei der Europwahl eine große Rolle – vor allem bei rechtspopulistischen Parteien. Dabei hätten auch die Parteien der Mitte etwas Wichtiges zu sagen, finden Experten.
Berlin – Ein Gespenst geht um in Europa – und es heißt Rechtsruck. Umfragen zeigen, dass in mehreren europäischen Ländern rechtspopulistische oder gar rechtsextreme politische Kräfte bei der bevorstehenden Europawahl gut abschneiden könnten. In Deutschland etwa steht die AfD bei über 17 Prozent – eine Steigerung von mehr als sechs Prozent gegenüber dem Wahlergebnis von 2019.
AfD argumentiert migrationsfeindlich: „Keine Partei, die Gegenpol bildet“
Auffällig: Rechtspopulistische Parteien nutzen das Thema Migration stark in ihren Wahlkämpfen. Das gilt für Länder wie Polen, Frankreich oder Italien ebenso wie für Deutschland, wie Expertinnen und Experten jetzt bei einem Pressegespräch vom Mediendienst Integration deutlich machten. Ein Problem: Ein Gegengewicht dazu gibt es nicht, sagt Özgür Özvatan vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität. Dort forscht er unter anderem zu Kommunikationsstrategien populistischer Parteien.
„Wir sehen in Deutschland mit der AfD eine starke migrationsfeindliche Partei. Aber wir sehen keine Partei, die klar und deutlich migrationsoffen argumentiert.“ Es gebe keine echte Polarisierung. Vielmehr lasse sich beobachten, dass Parteien Argumente der AfD in abgeschwächter Form aufgreifen – also der Partei letztlich hinterherhecheln.
„Menschen, die zur AfD tendieren, wählen das Original“
„Dabei ist empirisch nachgewiesen, dass Menschen, die zur AfD tendieren, das Original wählen, und nicht eine Partei, die deren Themen womöglich aufgrund einer Ratlosigkeit heraus aufgreift“, so Özvatan. Diese Ratlosigkeit manifestiere sich vor allem innerhalb der Parteieliten. „Wähler mit einem sozialdemokratischen Profil sind progressiver eingestellt, als es Spitzenpolitiker glauben. Sie könnten viel mehr für eine offene Migrationspolitik einstehen und damit ein eigenes Profil entwickeln, ohne sich um Wählerverlust Sorgen zu machen.“ Aktuell seien sich die Parteien der Mitte zu ähnlich – ein Einheitsbrei.
Rechtsextreme politische Kräfte würden hingegen gerade in sozialen Medien eine Deutungshoheit über massive Reichweiten anpeilen. Das lasse sich in Deutschland auch bei der AfD beobachten. Özvatan nennt das eine „Wahrnehmungskampagne vom rechten Rand“.
Chinesische Plattform TikTok ist mächtiges Werkzeug für AfD
Vor allem die chinesische Plattform TikTok ist dabei ein mächtiges Werkzeug für die Verbreitung von Botschaften. AfD-Politiker verbreiten ihre Positionen dort deutlich effektiver als Politiker demokratischer Parteien, wie zuletzt eine Studie des Politikberaters Johannes Hillje gezeigt hat. Videos der AfD-Bundestagsfraktion wurden auf TikTok zwischen Januar 2022 und Dezember 2023 demnach durchschnittlich dreimal so oft aufgerufen wurden wie die aller anderen Fraktionen zusammen.
„Drei von vier Personen, die sich für Politik interessieren, bekommen innerhalb kurzer Zeit früher oder später AfD-Inhalte angezeigt“, sagt Özvatan. Häufig geht es dabei um Migration. Der AfD-Politiker und Europawahl-Spitzenkandidat der Partei Maximilian Krah etwa, der auf TikTok besonders aktiv ist, hatte erst kürzlich in einem Video in Deutschland lebende Türken aufgerufen, seine Partei zu wählen. Die AfD sorge dafür, dass man „Vater und Mutter wieder ehrt“, und blockiere weitere Zuwanderung. „Denn diejenigen, die jetzt reinkommen: Wem nehmen sie denn die Wohnung und die Arbeitsplätze weg?“, fragt Krah suggestiv.
Integrationsforscher sieht Verantwortung auch bei SPD und Co.
„Die AfD ist völlig skrupellos, wenn es darum geht, verschiedene Gruppierungen unserer Gesellschaft gegeneinander auszuspielen“, kommentierte das seinerzeit SPD-Politiker Macit Karaahmetoğlu gegenüber IPPEN.MEDIA.
Integrationsforscher Özvatan wiederum sieht die Verantwortung auch bei den Parteien der Mitte, die der AfD bei dem Thema schlichtweg das Feld überlassen hätten. „Schon bei den Bundestagswahlen stand in den Wahlprogrammen der demokratischen Parteien im Gegensatz zur AfD kaum etwas zu Migration. Im Koalitionsvertrag hingegen spielt das Thema eine sehr große Rolle.“ Tatsächlich finden sich dort 35 migrationspolitische Maßnahmen, von denen viele schon umgesetzt sind. „Nur nimmt das keiner so richtig wahr, weil die Parteien es kaum kommunizieren.“
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