Dozenten unter der Armutsgrenze
Türkei droht „Rückentwicklung“: Nach Ärzten verlassen jetzt Wissenschaftler das Land
VonErkan Pehlivanschließen
Nach Ärzten verlassen nun Wissenschaftler die Türkei. Schlechte Arbeitsbedingungen und Wirtschaftskrise sind Hauptgründe. Für das Land hat das fatale Folgen.
Ankara – Die massiven Wirtschaftsprobleme der Türkei führen immer mehr Menschen ins Ausland. Vor allem gut Ausgebildete verlassen ihre Heimat. Nach Angaben der türkischen Akademiker-Solidaritätsplattform ADP (Akademik Dayanışma Platformu) sollen inzwischen bis zu 12.000 Wissenschaftler das Land verlassen haben.
Türkei: Dozenten verdienen unterhalb der „Armutsgrenze“
Grund dafür sind vor allem die Gehälter. Laut ADP bekommt ein Dozent nur noch 35.000 Türkische Lira Gehalt, umgerechnet 1.187 Euro. Mit dem Geld kann man allerdings keine vierköpfige Familie ernähren. Laut einer Studie der Metallgewerkschaft BISAM liegt die sogenannte „Armutsgrenze“ bei inzwischen 39. 886 TL (1.353 Euro). Als Armutsgrenze gilt hier jene Summe, die eine vierköpfige Familie etwa für Lebensmittel, Unterkunft, Nebenkosten, Transport und Kleidung mindestens ausgeben muss. Der neuen Studie zufolge kann damit ein Dozent an einer Universität nicht mehr seine Familie alleine ernähren - jedenfalls wenn er zwei Kinder hat.
„Vergessen wir nicht, dass diese Gehälter, die Akademiker verdienen, nicht nur traurig, sondern auch sehr besorgniserregend für unser Land sind“, kommentierte die ADP die Zahlen auf Instagram. Mit der Zunahme der Inflation und des Währungsverfalls wird die Lage für Wissenschaftler in der Türkei schwieriger. Mit steigender Inflation steigen auch die Ausgaben. Demnächst könnten dann auch Professoren unterhalb der Armutsgrenze leben, warnte die türkische Akademiker-Solidaritätsplattform.
Brain-Drain hat fatale Folgen für die Türkei
Dieser Brain-Drain hat fatale Folgen für das gesamte Land. „Die Türkei hat ohnehin Probleme in der Bildung. Das alles wird die Situation um ein vielfaches verschlechtern“, warnt Zeynep Ardıç von der ADP in einem Interview mit der Nachrichtenagentur ANKA. Das Land werde sich sogar zurückentwickeln.
Auch die Qualität an den Universitäten leidet wohl durch den Wegzug der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „In der Türkei gibt es 200 Universitäten. In der Leistungsfähigkeit können diese aber leider nicht mit den Hochschulen in den modernen Ländern mithalten. Unter den 500 besten Universitäten der Welt sind nur noch 3 türkische Universitäten“, sagte Ardıç. Die Akademikerriege in der Türkei habe zunehmend Zukunftsängste und denke darüber nach, ob das Geld noch bis Ende des Monats reiche.
Türkische Opposition fordert Maßnahmen gegen Abwanderung von Wissenschaftlern
Inzwischen hat die Opposition das Thema ins türkische Parlament getragen. In einer parlamentarischen Anfrage will der Abgeordnete Cumhur Uzun (CHP) wissen,
- wieviele Wissenschaftler das Land verlassen haben, um im Ausland zu arbeiten
- ob an Maßnahmen gearbeitet wird, die einen Abfluss an Wissenschaftlern ins Ausland verhindern soll
- ob die Regierung das Thema im Hintergrund der nationalen Bildungspolitik schon besprochen hat
Bereits zuvor hatte es Meldungen gegeben, denen zufolge zunehmend Ärzte die Türkei verlassen. Unter Berufung auf die türkischen Ärztevereinigung TTB (Türk Tabipleri Birliği) schreibt die Zeitung Sözcü, dass alleine 2022 laut der türkischen Ärztevereinigung TTB (Türk Tabipleri Birliği) 2.685 Ärzte Antrag auf ihr ärztliches Führungszeugnis (İyi Hal Belgesi) gestellt haben, um im Ausland ihren Beruf ausüben zu können. Anfang August hatten sich mehr als 120 Ärzte aus der Türkei zu einem Picknick in Hannover getroffen. Die Bilder machten in den sozialen Medien die Runde und zeigten das Dilemma in der Türkei.
Almanya'daki Türk Doktorlar Hannover buluşmasında: “Sayımız hızla artıyor...” pic.twitter.com/r1hgIHKa9p
— Haber Report (@HaberReport) August 5, 2023
Denn dort fehlen überall Ärzte. Stundenlange Wartezeiten in den Kliniken und überlastete Mediziner sind Normalzustand. Immer wieder gibt es zudem Angriffe auf Ärzte. Eine exemplarische wie drastische Meldung: Als der einzige Augenarzt im staatlichen Krankenhaus in Ergani vergangene Woche in den Feierabend gehen wollte, ließen ihn die Patienten nicht gehen. Dieser Arzt muss sich täglich im Durchschnitt 108 Patienten kümmern. Erst unter dem Schutz von Sicherheitskräften konnte er sein Behandlungszimmer verlassen.
Türkei leidet unter Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung der Meinungsfreiheit
Auch die Menschenrechtslage in der Türkei macht den Menschen immer mehr Sorgen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte in der Vergangenheit immer wieder Rektoren abgesetzt. Auch in Sachen Meinungsfreiheit hat das Land abgebaut. Wer etwa Erdogan kritisiert, kann auch als renommierte Wissenschaftlerin festgenommen werden. So wurde Prof. Şebnem Korur Fincancı wegen angeblicher Terrordelikte festgenommen. Gerade nach dem Putschversuch 2016 ließ Erdogan immer wieder unliebsame Wissenschaftler verhaften. (erpe)
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