Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) zu Gast bei „Anne Will“.
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Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) zu Gast bei „Anne Will“.

Ampel-Koaliton in der Krise

CDU und Linke bei „Anne Will“ in seltener Eintracht: Habeck ist schuld - Grünen-Chefin empört

Bei „Anne Will“ geht es um die Ampel-Koalition. Vor allem die Affäre um Habeck und Graichen steht im Fokus. Dabei zeigen sich unerwartete Allianzen.

Berlin - CDU-Generalsekretär Mario Czaja und die Bundestagsfraktionsvorsitzende der Linken, Amira Mohamed Ali, sitzen im Polit-Talk „Anne Will“ im Ersten in so seltener wie trauter Einigkeit - just, als es um den Vorwurf der Vetternwirtschaft im Wirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) geht.

Czaja spricht von einer „kleinen Clique“, die über die deutsche „Wirtschaftskraft“, dazu noch „handwerklich ausgesprochen schlecht“, entscheide. Auch Mohamed Ali findet es „hochproblematisch, was da geschehen ist“. Es würden „offenbar politische Entscheidungen in sehr, sehr kleinen Cliquen getroffen …“, echauffiert sie sich, „da hat man den Trauzeugen, den Schwager, die Schwester…“ Sie fordert ebenfalls den vorzeitigen Ruhestand für den in die Kritik geratenen Staatssekretär Patrick Graichen. Der „sei nicht mehr zu halten“, meint auch Czaja.

In der Tat gab es schon bessere Tage für die Ampel-Koalition: Rund 69 Prozent der Deutschen sind laut „Deutschlandtrend“ derzeit mit der Performance der Bundesregierung unzufrieden. Bei der Bürgerschaftswahl am Sonntag in Bremen wurden die Grünen abgestraft. Ihr Ergebnis in der Hansestadt sank von 17,4 Prozent in 2019 auf 11,7 Prozent. Anne Will stellt angesichts der vielen Kritikpunkte die Grundsatzfrage: „Hoher Anspruch, harte Wirklichkeit ­– Hat die Ampel Lösungen für die aktuellen Krisen?“

„Anne Will“ - diese Gäste diskutierten mit:

  • Lars Klingbeil (SPD) - Parteivorsitzender

  • Ricarda Lang (Die Grünen) - Bundesvorsitzende

  • Mario Czaja (CDU) - Generalsekretär

  • Amira Mohamed Ali (Die Linke) - Fraktionsvorsitzende im Bundestag
  • Robin Alexander - stellvertretender Chefredakteur Die Welt

Vor allem der Vorwurf der Vetternwirtschaft rund um Graichen, die von allen Seiten kritisierte Gesetzesvorlage zur Klimawende im Gebäudesektor und das Verbot von neuen Gas- und Ölheizung ab kommenden Jahr sorgte für enorme Kritik. Vonseiten der Opposition werden Vorwürfe laut, die Koalition sei überfordert. Die Grünen verdächtigen wiederum die Union, die Kritik zur populistischen Kampagne aufzubauschen. Bei „Anne Will“ blieben die Vertreter der politischen Lager dieser Haltung treu.

Linke-Fraktionschefin kritisiert Habeck-Gesetz: „Einfach so rausgehauen“

Gemeinsam mit Czaja kritisiert Mohamed Ali die Gesetzesentwürfe, „die einfach so rausgehauen“ würden und auf Kosten der „Menschen mit normalem, mittlerem Einkommen“ gingen, „deren Leben immer schwerer“ werde. Czaja erweitert die Liste: „Die Handwerker, die Bäcker …“, die schon aufgrund der gestiegenen Energiekosten „finanziell kämpfen“ müssten. Er kritisiert die „Verbotspolitik für den Klimaschutz“, die er vor allem den Grünen zuschreibt und die den „Klimaschutz gefährde“. Der CDU-General macht seine These daran fest, dass derzeit der Verkauf von Gasheizungen und auch Verbrennern zunehme.

Grünen-Chefin Ricarda Lang nimmt Czaja die Sorge um das Klima nicht ab: „Sie schüren Angst, ohne Antworten zu geben, weil es Ihnen weder um Klimaschutz noch um soziale Gerechtigkeit geht“, wirft sie der Union vor, die „offiziell eine Kampagne“ betreibe. Abwechslung bringt der stellvertretende Welt-Chefredakteur Robin Alexander in die Runde und stellt die SPD beim Streit zwischen Grünen und Opposition als lachenden Dritten dar, der sich geschickt aus der Affäre zu ziehen versteht: „Beim Heizungsgesetz kommt der Urplan aus dem Hause Habeck, besser gesagt: aus dem Hause Graichen. Aber Frau Geywitz hat ihn mitgetragen. Und als es Gegenwind gab, hat man von der SPD nichts mehr gehört.“

Wahl in Bremen bei „Anne Will“: „Politik ist kein Fußballspiel“

Auch in Bremen habe es die SPD, die erneut mit starkem Ergebnis aus der Wahl hervorging, verstanden, sich geschickt zu positionieren, so der Journalist: „Die eigentlichen Zahlen: Arbeitslose, Bildungsabschlüsse, Kinderarmut sind schlecht für Bremen.“ Leugnen würde das niemand. Dennoch könne der „Bürgermeister der Partei, die das jetzt seit 77 Jahren führt“ weitermachen. Alexander kommentiert trocken: „Jetzt kann man der SPD gratulieren: schlechte Zahlen, trotzdem gewonnen!“ Doch Politik sei kein „Fußballspiel“. Für das Gemeinwesen sei es „bitter“. Alexander warf aber auch der Bremen-CDU eine verpasste Diskussion über die Missstände vor.

Auch zum Thema Graichen hat Alexander eine interessante These: „Graichen hat seinen Trauzeugen nicht geholt, weil er glaubte, der braucht jetzt dringend einen Job“, befindet der Journalist. Auch von den anderen neun Bewerbern auf den Job seien sechs davon Duz-Freunde Graichens gewesen. Alexander erklärt das so: „Diese Szene, die auf grüner Seite die Energiewende macht, ist total eng. Die kennen sich alle zwanzig Jahre“. Man sei verheiratet, man teile dieselben Visionen, Missionen, Agenden. Der Journalist: „Das ist ein Problem für unser Land.“ Der Kreis der Experten sei einfach zu klein.

SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil befürwortet Regierungswechsel in der Türkei

Im letzten Viertel der Sendung schwenkt Anne Will den Blick noch gen Türkei. Zur Sendezeit ist das Ergebnis noch offen. Doch vieles deutet auf eine Stichwahl zwischen dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Oppositionspolitiker Kemal Kilicdaroglu hin. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil macht aus seiner Unterstützung für Kilicdaroglu, Spitzenkandidat der CHP, der türkischen Schwesterpartei der SPD, keinen Hehl. Im türkischen Wahlkampf habe er Kilicdaroglu unterstützt, gemeinsam habe man unter anderem die Erdbebengebiete besucht. „Wir haben mit Erdogan eine 20-jährige Entfremdung erlebt“, urteilt Klingbeil und befindet, für Europa und das deutsch-türkische Verhältnis sei es gut, wenn sich die CHP behaupten könne.

Alexander verweist auf die Flüchtlingsfrage und auf Pläne aus Kanzleramt und Innenministerium, die unter anderem Asylverfahren an den Außengrenzen möglich machen sollen. Keine neue Idee, so Alexander. Der ehemalige CSU-Innenminister Horst Seehofer sei mit dieser Idee aber noch an der SPD gescheitert.

Fazit des „Anne Will“-Talks

Anne Will wollte die Wahlen in Bremen und auch in der Türkei als Steilvorlage für ihren Talk nutzen, doch keiner der Urnengänge brachte einen echten News-Wert. In Bremen wurde erneut und wenig überraschend die SPD stärkste Kraft, in der Türkei bleibt es noch offen. So plätscherte die Runde vor sich hin. Die Argumente waren bekannt. Allein Journalist Robin Alexander brachte durch ein paar interessante Fakten etwas Abwechslung in den Talk. (Verena Schulemann)