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Nach Aus für Migrationsgesetz: AfD träumt in Hessen vom Kanzleramt
VonStephanie Eva Fritzsche
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Tag der Gegensätze: 9000 Menschen demonstrieren gegen eine AfD-Veranstaltung. Spitzenkandidatin Alice Weidel träumt von schwarz-blauer Koalition.
Es ist ein Tag der Gegensätze in Neu-Isenburg bei Frankfurt: Vor der Hugenottenhalle demonstrieren am Samstag 9000 Menschen gegen die AfD und sorgen sich um die Demokratie. Bei der AfD-Wahlkampfveranstaltung in der Halle herrscht derweil Feststimmung: Die Partei ist in Umfragen zweitstärkste Kraft, der reichste Mann der Welt unterstützt ihren Wahlkampf und sie konnte in der vergangenen Woche ihren größten parlamentarischen Erfolg feiern, weil der Unionsplan zur Asylwende nur mit ihren Stimmen eine Mehrheit fand. Alice Weidel übt schon mal den Amtseid der Vereidigung zur Kanzlerin. Wer sind ihre Wähler? Ein Annäherungsversuch.
Suchend eilt eine Gruppe Männer in dunklen Jacken durch das Einkaufszentrum. Sie wirken fehl am Platz an diesem Samstagnachmittag zwischen den einkaufenden Familien. „Wie kommen wir jetzt rein?“, fragt einer. „Vorne ist alles voller Demonstranten“. Ein schwerbewaffneter Polizist, der an diesem Tag mit hunderten Kollegen im Einsatz ist, öffnet schließlich eine Absperrung und lässt sie über einen Seitenausgang zur Wahlkampfveranstaltung in der benachbarten Halle.
AfD zieht ihr Wir-Gefühl aus Protesten
Versammlungsfreiheit gelte für jede demokratische Partei, haben Bürgermeister und Polizei im Vorfeld betont. Mit Absperrungen versuchen Beamte, die weitgehend friedlichen Demonstranten von der Halle fern zu halten. Die AfD-Anhänger sind empört: „Die Antifa hat uns dermaßen bösartig beschimpft und nicht durchgelassen“, sagt Rentnerin Karin aus Rheinhessen. „Das kann doch nicht sein. Ich muss mich doch nicht rechtfertigen, das ist doch eine demokratische Partei“, schimpft sie.
Auch der AfD-Direktkandidat für den Kreis, Peter Lutz, ist empört, dass Gästen der Durchgang zur Halle erschwert wurde: „Die Polizei war nicht in der Lage, einen Korridor zu bauen“, schimpft er. „Demokratie leidet so unter einem linken Mop und einem unfähigen Staat.“
Die Partei zieht ihr Wir-Gefühl aus Protesten wie diesem: „In unserem Land hat sich eine Unkultur der Respektlosigkeit gegenüber Andersdenkenden breitgemacht“, wird Kanzlerkandidatin Alice Weidel später sagen. „Es geht nicht gegen die Partei, es geht auch nicht gegen mich. Es geht gegen Millionen von Wählern, die wir repräsentieren.“
AfD-Anhängerin in Neu-Isenburg: „Es ist alles zu teuer geworden.“
Im Eingang verteilt ein Mann Aufkleber mit der Deutschlandfahne. Eingelassen werden nur Besucher mit Einladung, darunter wenige junge Menschen - einzig eine Gruppe Anfang 20 in Anzügen mit korrektem Seitenscheitel und Burschenschafts-Habitus sticht heraus. Was begeistert die Menschen an dieser Partei, gegen die draußen Tausende demonstrieren? Die AfD sei die „einzige Partei für Veränderungen.“ Mehr wollen sie nicht sagen. Auch eine 45-Jährige mit Piercings und Tattoos im Gesicht will anonym bleiben. „Wir sind Arbeiter mit 40.000 Euro Einkommen. Es ist alles zu teuer geworden. Gestern war ich bei Aldi und habe 90 Euro gezahlt - da stimmt doch was nicht mehr.“
Bilderstrecke: Das ist der Anti-AfD-Protest heute in Neu-Isenburg
Frust über die Wirtschaftslage und die Politik der Altparteien ist bei vielen der Grund für ihren Schwenk zur AfD. „Ich war früher SPD-Wählerin“, sagt eine zierliche Dame Mitte 60. „Aber nachdem wir erkannt haben, dass weder SPD noch CDU die Merkel-Grenzöffnung rückgängig machen, sondern hintenrum eine Asylindustrie aufgebaut haben, bin ich in die AfD eingetreten“, sagt sie. „Es gibt kein Geld mehr in den Kommunen aber wir müssen Migranten aus aller Welt aufnehmen. Das kann nicht so weitergehen.“
Migranten werben für die AfD
Die AfD schmückt sich mittlerweile auch mit Zuwanderern. Catherine Schmiedel aus Nigeria wirbt mit dem Verein „Mit Migrationshintergrund für Deutschland e.V.“ für die AfD. Sie lebt seit zwölf Jahren in Deutschland und arbeitet als Englischlehrerin an einer Grundschule. „Die Leute, die herkommen müssen arbeiten und dürfen sich nicht in der sozialen Hängematte ausruhen“, fordert sie. „Das Land verändert sich“.
Partei-Werbefilme zeichnen ein drastisches Bild. Früher seien Weihnachtsmärkte sicher gewesen. Seit 2015: Messerattacken. „Wann hat das eigentlich alles angefangen?“, fragt eine Stimme. „Wann hört es endlich auf? Wann sind wir endlich wieder dran?“ Die AfD verspricht den Neuanfang.
AfD verspricht simple Lösungen für komplexe Probleme
Vor der Bühne: ein Fahnenmeer wie bei einem Fußball-Länderspiel. Die Spitzenkandidaten Tino Chrupalla und Alice Weidel versprechen einfache Lösungen für komplexe gesellschaftliche Themen:
Energiewende: Zurück zur Kernkraft und zum Verbrennermotor. Windräder: „Wir werden die hässlichen Dinger wieder abreißen“, sagt Weidel. „Lasst uns die Wälder wieder aufforsten. Schützen wir unsere Natur“. Umweltschutz durch mehr Kernkraft und weniger erneuerbare Energien? Dieses Heilsversprechen hinterfragt niemand.
Ukraine: Die AfD wolle im Gegensatz zur Union Frieden in der Ukraine. Die USA müsse den Krieg gemeinsam mit Russland so schnell wie möglich beenden. Die komplexen Konsequenzen für Osteuropa angesichts imperialistischer Bestrebungen Russlands? Diese Fragen stellt hier niemand.
Migration: Bürgergeld nur noch für deutsche Staatsbürger. Weidel will illegale Immigranten an Tag 1 abschieben. Wie und wohin, wenn Herkunftsländer nicht feststellbar sind oder die Aufnahme verweigert wird? Sie erntet nur Applaus. Überhaupt will Weidel einiges an Tag 1 umsetzen in schamloser Anlehnung an Donald Trumps Wahlsieg-Rede. Aus dem Pariser Klimaabkommen austreten etwa. Und aus der WHO. Der Saal jubelt.
Nach dem Scheitern des Migrationsgesetzes der Union im Bundestag wittert die Partei Morgenluft. Chrupalla träumt von einer Sperrminorität im deutschen Bundestag wie in Sachsen, einer schwarz-blauen Koalition und einer Kanzlerin Alice Weidel. Die spricht in einem Einspieler schon mal den Amtseid. „Merz wird von dem, was er verspricht, nichts umsetzen können, weil er mit Rot und/oder Grün koalieren muss“, prophezeit Weidel. Darum: „Macht uns zur stärksten Kraft“, betont sie immer wieder. „Deutschland braucht einen echten Politikwandel und den wird es nur mit der AfD geben.“ Jeder fünfte Deutsche glaubt das mittlerweile offenbar.
„Begeistert hat mich der Optimismus. Die Hoffnung, dass sich noch was verändert“, sagt Simon, 42, aus Aschaffenburg nach Weidels Rede. Der frühere SPD-Wähler ist seit einem Jahr AfD-Mitglied. „Ich wollte damit ein Zeichen setzen. Obwohl ich die Parteiansichten teile bin ich noch lange kein Nazi –meine Frau ist Mexikanerin“, sagt er. Einige seiner Freunde vermeiden seit Simons Parteieintritt politische Diskussionen. Andere gestehen ihm ihre Sympathie für die Partei. Seit dem Attentat in seiner Heimatstadt vor zwei Wochen seien das mehr geworden.
„Nazis raus“ - 9000 Menschen protestieren vor der Halle
Als die Besucher am Abend die Halle verlassen, ruft eine letzte Gruppe frierender Demonstranten müde „Nazis raus“. Seit den Morgenstunden harren sie vor der Halle aus. Die letzte Konfrontation. Zwischen Demonstranten und AfD: Polizei-Absperrungen.