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„Mein Hauptanliegen ist es, Bedrohungen ernstzunehmen, aber andererseits nicht in lähmende Ängste zu verfallen“, sagt Bundespräsident a. D. Joachim Gauck im Interview mit dem Hanauer Anzeiger.
Joachim Gauck: „Wir dürfen den Feinden unserer Demokratie nicht unsere Ängste schenken“
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Jan-Otto Weber
Holger Weber-Stoppacher
Yvonne Backhaus-Arnold
Bundespräsident a.D. zu Besuch in Hanau: Joachim Gaucks politische, gesellschaftliche und geschichtliche Expertise ist noch immer gefragt.
Hanau – Nicht selbstverständlich, dass sich Joachim Gauck am Nachmittag vor seiner Lesung in Nidderau am 7. Juni, zwei Tage vor der Europawahl, Zeit nahm, den HANAUER ANZEIGER zu besuchen. Gut eine Stunde lang sprach der 84-Jährige über die Themen seines aktuellen Buches „Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“: den russischen Überfall auf die Ukraine und der Vertrauensverlust in die Demokratie durch die zahlreichen Krisen unserer Zeit.
Herr Gauck, auch als Bundespräsident a. D. sind Sie noch viel unterwegs. Was bewegt die Bürger?
Ich spüre, dass wir Deutsche mehr zur Ängstlichkeit neigen als etwa unsere Nachbarvölker Polen oder Frankreich. Gerade jetzt angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist die Kriegsgefahr etwas, das viele beunruhigt. Diese Beunruhigung hat mich ja auch veranlasst, dieses Buch zu machen. Und es existiert ja nicht nur eine äußere Bedrohung, sondern auch eine innere. Mich interessiert: Was treibt eigentlich die Gegner unserer liberalen Demokratie an? Warum sind sie unzufrieden? Mein Hauptanliegen ist es, Bedrohungen ernstzunehmen, aber andererseits nicht in lähmende Ängste zu verfallen. Wir dürfen weder den äußeren noch den inneren Feinden unserer freiheitlichen Demokratie unsere Ängste schenken.
Gauck in Hanau über sein Buch: Donald Trump als erste Motivation
Gab es eine Begegnung oder ein Gespräch, das Sie veranlasst hat, dieses Buch zu schreiben?
Ich hätte es eigentlich schon früher schreiben können, und zwar, als in den USA Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Gerade weil ich vom Wert der liberalen und offenen Gesellschaft so überzeugt bin und die Demokratie nach wie vor als das Modell betrachte, das Zukunft hat, bin ich besorgt darüber, dass die Freiheit nicht nur von außen bedroht wird, sondern auch aus sich heraus. Und das sieht man an einer Figur wie Trump sehr deutlich. Man kann mit einer demokratisch gewonnenen Mehrheit Wahlkreise verändern zugunsten der eigenen Partei. Oder die höchsten Gerichte so besetzen, dass im Grunde eine gewünschte ideologische Richtung dominiert. Aber das sind Beschädigungen der liberalen Demokratie.
Was genau meinen Sie mit „liberaler“ Demokratie?
Ich spreche immer von liberaler Demokratie, weil dazu auch Minderheitenschutz, Achtung der Gewaltenteilung, Meinungspluralität, also eine freie Presse gehören. Das ist unser Modell, das hier in Mittel- und Westeuropa reüssiert, und das wollen wir bitte verteidigen.
Angesichts der Stimmung vor allem in Ostdeutschland: Können Sie sich erklären, warum so viele Menschen, die 1989 für Freiheit und Recht auf die Straße gegangen sind, nun Rechtspopulisten wählen?
Ich habe mir darüber sehr viele Gedanken gemacht, denn ich habe ja bis zu meinem 50. Lebensjahr im Osten gelebt. Die Hauptursache im spezifischen Wahlverhalten der Ostdeutschen besteht nicht, wie viele meinen, in den Verwerfungen der Wiedervereinigung, als viele Menschen arbeitslos wurden. Das hat zwar viele Leute verunsichert und viele auch wütend gemacht. Aber der Hauptunterschied besteht darin, dass wir im Osten Deutschlands eine Bevölkerung haben, die in vielen Jahrzehnten nicht Schritt für Schritt hat lernen und leben dürfen, was eine liberale Demokratie ist, mit einer eigenen Rolle als autonomer, eigenverantwortlicher Bürger. Ältere Westdeutsche haben zwölf Jahre NS-Diktatur in ihrem Erfahrungsgepäck. Ostdeutsche Menschen haben zwölf plus 44 Jahre Diktatur erlebt. Ihre Lebensentwürfe waren völlig anders gestaltet. Wenn Du auf der demokratischen Seite der Mauer dafür belohnt wurdest, ein eigenständiges Individuum zu sein, deine eigene Meinung und deine eigene Verantwortung zu trainieren, dein bürgerschaftliches Ich zu stärken, war das auf der anderen Seite unter Diktaturbedingungen eher schädlich. Es gab dort eine Gewöhnung an politische Ohnmacht. Und dadurch entsteht so etwas wie ein Angst-Anpassungs-Syndrom, das ganze Gesellschaften prägt.
Und dennoch führte das Volk in der DDR 1989 die Wende herbei.
Natürlich gab es immer oppositionelle Kerne, gerade in den Kirchengemeinden war das so, auch unter Jugendlichen und in gewissen Künstlerszenen. Das sind die, die dann 1989 aktiv wurden. Und da die Bevölkerung unzufrieden war mit dem ökonomischen und politischen Dasein, hat sie sich dann diesem Oppositionellen angeschlossen. Aber viele waren dann, als die Freiheit kam, nicht befähigt, die Freiheit „zu“ etwas zu leben. Die Freiheit „von“ etwas, von Fremdbestimmung, ersehnt jeder. Aber der zweite Teil der Freiheit, die Freiheit „für“ und „zu“ etwas, die ist immer mit Eigenverantwortung verbunden. Und wenn Du von der Schule an auf Anpassung und Unterordnung gedrillt bist, dauert das eine Zeit, bis größere Teile der Gesellschaft diese Form erlangen, die wir stärker im Westen sehen: dass Menschen in Vereinen, in Bürgerinitiativen, in freien Gewerkschaften, in freien Medien sich selbst definieren als unabhängige Individuen. Von daher gibt es im Osten so eine nachholende Entwicklung hin zur Zivilgesellschaft. Wobei wir in der jungen Generation zwei unterschiedliche Haltungen sehen: die Mehrheit hat die Möglichkeiten der Freiheit erkannt und genutzt, ein anderer Teil folgt den Urteilen und Haltungen ihrer Eltern, die zum Teil verbittert sind. Es gibt offenkundig eine transgenerationelle Weitergabe von markanten Prägungen, von Verletzungen, aber auch von Erfolgen.
Man kann zum Beispiel auf junge Leute treffen, die die DDR gar nicht mehr erlebt haben, aber die einem Erfahrungen auftischen, die sie selber ja gar nicht gemacht haben können. Da hört man zum Beispiel von Schülern am Gymnasium, was die DDR für ein fabelhafter Sozialstaat war. Wenn man dann fragt, was für eine Rente die Oma früher hatte: „keine Ahnung.“ Oder wie behinderte Menschen behandelt wurden: „keine Ahnung. Aber es gab ja so einen guten Zusammenhalt.“ Und warum, frage ich, war das so? Vielleicht weil es eine Mangelgesellschaft war und wir uns deshalb gegenseitig helfen mussten? „Ach so? Ja, da haben wir noch nicht drüber nachgedacht.“ Aber sie haben verinnerlicht: Es war eine solidarische Gesellschaft. Tatsächlich war es eine Klassengesellschaft – also eine Klasse, die herrschte, und eine der Beherrschten. Eine Oben-Unten-Gesellschaft, und zwar sehr stark ausgeprägt, sodass wir nicht durch freie Wahlen andere Gruppen der Bevölkerung an die Macht bringen konnten. Das war völlig ausgeschlossen. Aber was mir gerade auffällt ist: Ich spreche jetzt mit Ihnen dauernd über den unzufriedenen Teil der Ostbevölkerung, der tatsächlich ein Viertel bis maximal ein Drittel ausmacht. Und wir sprechen nicht über die Mehrheit.
Dennoch ist es ja ein relevanter Teil. Wenn Sie die Schülergeneration ansprechen: Müssen wir also noch mehr in politische Bildung investieren?
Es ist natürlich immer schön, wenn wir ein Schulsystem haben, in dem junge Leute Ermächtigung erfahren. Wir brauchen ein politisches „Ich“. Dieses Gefühl: Ich bin zuständig für die Dinge, die mich umgeben. Und manchmal kommt das direkt aus der Schülerschaft heraus. Denken Sie an die Bewegung „Fridays for future“. Was mir daran gefällt ist, dass plötzlich eine Gruppe junger Menschen auf die Straße geht, um zu zeigen: „Wir fühlen uns herausgefordert, das ist unsere Zukunft.“ Sie erklären sich für zuständig. Und eben das ist das Element, das wir brauchen. Dass wir Klassensprecher haben, dass wir Schülerzeitungen haben, dass es parlamentsähnliche Strukturen gibt für junge Leute – das alles ermächtigt zu politischem Handeln und fördert ein Selbstverständnis als verantwortlicher Bürger.
Nun tritt die Neigung zu radikalen Positionen nicht nur in Ostdeutschland auf. In Ihrem Buch gehen Sie auf internationale Studien ein, die sich mit dem Thema befassen.
Ja, das war eine sehr erhellende Entdeckung. Es ist ja auch im Westen und europaweit so, dass rechtsnationalistische Parteien reüssieren. Ich bin im Krieg geboren und war immer froh, dass wir keine Rechtsaußenpartei im Bundestag hatten. Ich dachte, das würde immer so bleiben. Aber dem war nicht so. Auch bei uns im Bundestag landete eine nationalpopulistische Partei. Wenn man weiß, was Krieg ist, und wenn man sich auseinandergesetzt hat mit dem Nationalsozialismus, dann hasst man Nationalismus, weil man weiß, wie tief eine Nation im Wahn sinken kann. Wir sehen jetzt in Putins Russland, was passiert, wenn eine Nation nationalistisch wird. Gerade als Deutsche wissen wir doch um das Unheil des Nationalismus. Und deshalb wollte ich über meine Empörung hinaus wissen, wie kommt das? Wie kommt das, dass in diesem geordneten Gemeinwesen Nationalisten Zustimmung erhalten? Wir haben doch eine konservative Partei.
Die australische Verhaltensökonomin Karen Stenner, die Sie im Buch erwähnen, spricht von einer „autoritären Disposition“ bei einem großen Teil der Bevölkerung. Was verbirgt sich hinter dem Begriff?
Die Studien, die in den USA und in europäischen Ländern durchgeführt wurden, stellten fest, dass es so etwas wie eine Gestimmtheit von Bevölkerungsgruppen für eher strukturkonservative Formen gibt, so zu denken und zu empfinden. Und die Autoren dieser Studie haben sich gefragt, gibt es eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, die geprägt ist durch eine autoritäre Disposition ihres Daseins? Ihre Untersuchungen in den europäischen Ländern ergaben, dass 33 Prozent der Bevölkerungen zu dieser Gruppe gehören.
Was überrascht, ist die Aussage, dass diese Prägung vererbt sein soll. Mit solchen Thesen sollte man ja eher vorsichtig sein.
Es geht dabei nicht um Genetik, sondern um die Prägung durch das soziale Umfeld, in dem man aufgewachsen ist. Denn jede Generation gibt ihre Erfahrungen und Mentalitäten weiter an ihre Kinder. Und diese Disposition hat auch nicht unbedingt damit zu tun, dass man politisch konservativ ist. Die SED-Kader waren auch strukturkonservativ. Diese autoritäre Disposition meinen die Wissenschaftler nicht negativ, sondern es ist zunächst normal, so zu sein. Das sind Leute, die Sicherheit wichtiger finden als Freiheit. Oder die Wandel mehr fürchten als begrüßen. Das sind Menschen, die Risiken auf alle Fälle meiden. Strukturkonservativ geprägte Menschen braucht jede Gesellschaft, weil wir Traditionsgüter haben, die wir auch schützen und schätzen. Rechtstreue gehört dazu und ein Sinn für Ordnung, für Sicherheit. Das alles braucht jede Gesellschaft.
Was ist dann das entscheidende Momentum, durch das diese Prägung zur Bedrohung für die Demokratie wird?
Problematisch wird diese Prägung, wenn es zu großen Wandel gibt, der die Menschen überfordert, oder wenn es multiple Krisen gibt. Dann ist es in den untersuchten Staaten so gewesen, dass die traditionellen Parteien der Mitte keine bergenden Antworten mehr hatten. Ich habe da an den großen liberalen Denker Ralf Dahrendorf gedacht; der hat mal gesagt: Wenn die traditionellen Parteien die Ängste und Problembereiche, die Menschen verunsichern, nicht bearbeiten, dann finden sich andere, die das tun. Genau das erleben wir, wenn die traditionellen konservativen Parteien in Europa in den vergangenen Jahren Wähler verloren haben. Und wenn wir uns über die Wahlergebnisse in Ostdeutschland ärgern: Viel interessanter ist es, etwa die Schweiz zu betrachten oder die Muster-Demokratien in Skandinavien. Da sehen wir auf den ersten Blick super organisierte Gesellschaften, keine sozialen Nöte. Aber unter dem Trigger-Element der hohen Zuwanderung haben sich sehr starke nationalpopulistische Parteien herausgebildet, in einer Landschaft, die völlig anders geprägt ist als etwa die ostdeutsche Transformationsgesellschaft. Und so erleben wir in diesen sozial befriedeten Gesellschaften einen Mentalitätswandel, ausgelöst durch einen Veränderungsdruck. Unsere Zeit ist geprägt von einem noch stärkeren Wandel als seinerzeit zu Beginn der Industrialisierung. Wir sind also nicht konfrontiert mit einem völlig abenteuerlichen Phänomen im politischen Raum, sondern diese Gegensätze, die wir gerade erleben, sind erklärbar. Da steckt etwas Normales drin. Menschen haben Probleme mit starkem Wandel, sie möchten im Vertrauten verbleiben.
Die AfD angemessen bekämpfen
Aber wo ist dann die Grenze des Tolerierbaren?
Nicht normal und nicht hinnehmbar ist, wenn eben diese Menschen so reagieren, dass sie sogar faschistoide Formen des Denkens und Sprechens wieder aufnehmen und so tun, als wäre das Heil in einem Führerstaat zu suchen. Dies betrifft einen kleineren Teil der Wählerschaft der Nationalpopulisten, aber auch der größere Teil, der etwa bei uns den Staat des Grundgesetzes verhöhnt und bekämpft, ist eine veritable Gefahr für das Fortbestehen unserer liberalen Demokratie.
Welche Handlungsweisen sollten aus dieser Erkenntnis folgen?
Mein Anliegen ist, die AfD angemessener zu bekämpfen. Wenn ich sage, das sind alles Nazis, weil sie Höcke wählen, dann mache ich einen Fehler. Die Mehrheit will nicht Adolf Hitler zurückhaben, aber zieht vielleicht so etwas wie eine gelenkte Demokratie vor, eine nicht liberale Demokratie. Das sind Menschen, die verunsichert sind und ihre Hoffnungen auf eine Partei richten, die „anders“ ist, selbst wenn diese überhaupt keine relevanten Zukunftsangebote machen kann. Deshalb brauchen die konservativen Parteien in Europa wertkonservative Ansagen. Sie müssen dieser verunsicherten Wählerschaft erklären: „Du kannst sehr gut bei uns ein wertkonservativer Bürger sein. Dazu brauchst Du weder eine reaktionäre Form konservativer Politik noch die Ressentiments der Populisten.“ Gut ist es, wenn solche Botschaften von Menschen vorgetragen werden, die als anständige Konservative auch deshalb überzeugend wirken, weil sie menschennah sind und auf Ressentiments verzichten. Dann wird ein Teil der abgedrifteten konservativen Wähler zurückzuholen sein.
Sie fordern also auch in der liberalen Demokratie eine starke und entschlossene Führung. Sehen Sie die auch in der aktuellen Ampel-Koalition?
Es ist so, dass wir erkennbar ein Vertrauensdefizit haben in der Bevölkerung gegenüber der Regierung, jedenfalls mehrheitlich. Und manchmal ist starke Führung unerwarteterweise da. Vor zwei Jahren saß ich im Deutschen Bundestag und unser sozialdemokratischer Kanzler hielt die Zeitenwende-Rede. Das war ein unerwartet starkes Signal. Danach kam aber langes Zögern. Können wir der Ukraine die gewünschte Waffe geben oder sind wir dann Kriegspartei? Irgendwann wurde die Waffe dann doch geliefert. Schritt für Schritt haben wir es gelernt, Putin anders zu lesen. In meinem Buch gibt es lange Ausführungen darüber, dass die deutsche Politik in der alten Bundesrepublik es in der zweiten Phase der Ostpolitik verlernt hatte, eine realistische Analyse der Sowjetpolitik vorzunehmen und dass sich dieses Wahrnehmungsdefizit und auch ein Wunschdenken bis in die Merkel-Zeit fortgesetzt hat. Nach der Zeitenwende-Rede dachte ich, jetzt haben wir es begriffen. Aber zeitweilig gab es dann wieder ein Zögern und ein nicht ausreichendes Betrachten der Situation. Was würde geschehen, wenn es einen Frieden à la Putin gibt?
Was meinen Sie mit „Frieden à la Putin“?
Vor ein paar Tagen hat der ehemalige SPD-Chef Sigmar Gabriel in einer Fernsehsendung einen hochinteressanten Satz gesagt: „Wenn die Ukraine sich nicht genug verteidigen kann und es zu einem Putin-Frieden kommt, dann haben wir keine Nachkriegszeit, sondern eine Vorkriegszeit.“ Da hat einer die Ambitionen eines Aggressors wirklich ernst genommen und hat sich befreit von einem romantisierenden Denken, das in weiten Teilen Deutschlands in Bezug auf Russland noch vorhanden ist. Es ist eine Mischung aus Furcht vor einem Aggressor und Wunschdenken bei einem Teil der Progressiven und einem Teil der Reaktionären. Und das Interessante ist, dass braune und rote Reaktionäre ähnlich verständnisvoll auf Putin gucken. Das ist schon sehr entlarvend.
Sie haben die Fehler der Ostpolitik in der früheren Bundesrepublik erwähnt. Können Sie diesen Punkt genauer ausführen?
Die erste Phase der Ostpolitik war wichtig und erfolgreich. Unter dem Leitmotiv „Wandel durch Annäherung“ hat die Brandt’sche Ostpolitik wichtige Ost-West-Verträge geschlossen und im Vertrag von Helsinki in den 70er Jahren dafür gesorgt, dass der Ostblock die Gültigkeit der Menschenrechte akzeptierte. Das war für die unterdrückten Menschen im Osten von großer Bedeutung. Danach aber veränderte sich in Moskau nichts mehr. Und als von unten durch die protestierenden Massen in Polen das ganze Sowjetsystem in Frage gestellt wurde, hatte die SPD-Politik große Probleme, die Solidarnosc anzuerkennen und zu unterstützen – die störte ja die Gespräche mit der Moskauer Machtelite. Eine aus Friedensliebe erwachsene Fehlwahrnehmung des ideologischen Gegners prägte also damals die führenden Köpfe.
Wie sollte also die SPD heute agieren?
Die SPD sollte sich von den Fehlern der Vergangenheit vollständig verabschieden. Sie sollte sich zudem auch bewusst machen, dass der Friedenspolitiker Brandt sowohl die Bundeswehr ausreichend ausgestattet, als auch die Wichtigkeit der NATO stets betont hat. Der Kanzler hat das Problem, dass es in der SPD wie in der Bevölkerung eben auch Teile gibt, die meinen, wenn wir nur verständnisvoll auf Putin gucken, wird er schon nicht allzu schlimm mit uns umgehen. Das ist aber politisches Wunschdenken, und Wunschdenken ist gefährlich. Denn wenn wir einem Aggressor keine Grenzen setzen, dann zügeln wir seinen Appetit nicht. Frieden ist nicht umsonst zu haben. Zumindest Frieden in Freiheit nicht. Friedhofs- und Unterwerfungsfrieden schon. Das, was vielleicht Frau Wagenknecht und die AfD akzeptieren würden. Aber die Mehrheit der Deutschen will so etwas nicht. Und deshalb werden wir wieder lernen müssen, worauf unser Verteidigungsminister hinweist: Wir müssen verteidigen, was wir erworben haben. Zum Verteidigen gehört mitunter auch, auf Dinge zu verzichten. Es kann sein, dass das Wachstum und der Wohlstand auch mal eine Delle erfahren. Weil es wichtig ist, Geld auszugeben für die Verteidigung.
Joachim Gauck über die Rolle der Kirche
Wie sehen Sie als Pastor denn die Rolle der Kirche in dieser Zeit äußerer und innerer Bedrohungen?
Es ist so, dass wir im Raum der Kirche nicht alle einförmig denken, auch politisch nicht. Das geht bis dahin, dass gerade im mitteldeutschen Raum in den Gemeinden Debatten geführt werden, ob ein Mitglied der AfD im Leitungsgremium einer Kirchengemeinde sein darf, oder ob ein Pfarrer AfD-Sympathisant sein dürfe. Aber die Mehrheit der Christen in Deutschland, egal ob evangelisch oder katholisch, steht treu zu dieser liberalen Demokratie. Das ist beruhigend. Und dann gibt es die vielen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, in denen Christen aktiv sind, die auf verschiedenen Ebenen zusammenwirken. Bei den Demonstrationen im Frühjahr gegen rechtsextreme Verführer, da hat man diese Bündnisse der breiten politischen Mitte –von Christen und Andersdenkenden und Zugewanderten – gesehen.
Sie haben in ihrem Buch den Ausspruch, den sie als Präsident gemacht haben, noch einmal bekräftigt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich“. Das rief damals ein geteiltes Echo hervor.
Das stimmt. Wer eher links war, hat das kritisch kommentiert. Ich war aber ganz froh, dass die Rezeption nicht so kritisch war, wie erwartet. Der Bundespräsident ist ja ein Vertreter der politischen Korrektheit. Das ist qua Amt so. Über einen solchen Satz denkt man also lange nach, wenn man Präsident ist. Denn normalerweise ist der Text von Präsidenten und führenden Repräsentanten „Vielfalt ist Gewinn“. Und solche Reden habe ich natürlich auch gehalten, weil ich voll davon überzeugt bin. Wo wären wir Deutschen ohne Zuwanderung?! Ich wollte aber, dass wir über Probleme der Zuwanderung auch in der Mitte der Gesellschaft offen sprechen. Die Hoffnung war: Wenn der Präsident signalisiert, es gibt auch Probleme, dann fällt es leichter, das konstruktiv zu thematisieren. Und ich wollte verhindern, dass nur der Stammtisch und der rechte Rand die Probleme artikulieren und dass die Progressiven und die demokratische Mitte nur über das sprechen, was angenehm und nützlich ist.
Ist Ihnen das gelungen?
Teilweise ja. Ich habe starke Unterstützung gefunden von den Oberbürgermeistern und Landräten. Ich habe 600 Bürgermeister eingeladen ins Schloss Bellevue und bin in Dutzende Städte gereist und habe mir vor Ort angeschaut, wie die das mit der Unterbringung der Migranten und Flüchtlinge schaffen oder wo es ungelöste Probleme gibt. Und deshalb weiß ich, dass es Lösungen gibt. Wir stehen nicht vor der Situation, in der wir sagen müssen, das Boot ist voll. Aber wir dürfen uns auch nicht vor einer Wahrnehmung tatsächlicher Probleme fürchten und weiter nur das Positive benennen. Auch muss unsere Gestaltungs- und Steuerungsfähigkeit deutlicher zu erkennen sein. Erkennbare Führung ist ein Gebot für die liberale Demokratie. Wenn in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, die Regierung ist nicht fähig zur Steuerung und zur Gestaltung, dann wächst Misstrauen. Und wenn Misstrauen dominiert im öffentlichen Raum, schlägt die große Stunde der Verführer.
Diese AfD? Abgrenzung. Diese AfD ist kein Partner für die Union. Man muss sie argumentativ stellen. Wer hat denn dieses Land zu dem gemacht, was es ist? Doch nicht die Reaktionäre von rechts- oder linksaußen! Sondern das sind die Parteien der Mitte gewesen, die mit demokratischen Mehrheiten gewählt wurden. Natürlich ist der eine oder andere ein bisschen autoritärer gewesen in der Union, wenn ich an Alfred Dregger denke oder Franz Josef Strauß. Zumindest das Bedürfnis von erkennbar bewahrender Politikgestaltung wird uns erhalten bleiben. Von daher: ja zu einem deutlichen wertkonservativen Profil, nein zu einer Politik des Ressentiments und der Fremdenfeindlichkeit. Selbstbewusster darstellen, was konservative Politik – zum Teil im Bündnis mit Sozialdemokraten und Freien Demokraten – erreicht hat. Nicht voller Furcht zum Holzhammer greifen: „Wer AfD wählt, ist Nazi.“ Sondern erkennen, da sind auch heimatlose Konservative darunter. Die müssen wir zurückgewinnen, denn konservative Politikgestaltung ist ein wesentliches Element demokratischer Politik, mit der Bewahrung solcher Werte, die uns Zukunft und Erfolg gegeben haben.
Braucht es da auch noch mehr bürgerschaftliches Engagement aus der Zivilgesellschaft heraus? Die Demonstrationen als Reaktion auf die Remigrations-Pläne der AfD sind ja weitgehend verpufft.
Wissen Sie, die Menschen haben da ein sehr wichtiges Signal gegeben: Wir lassen diese Republik nicht verkommen. Das andere Signal ist: Wir suchen etwas, das die Verschiedenen miteinander verbindet. Wir dürfen in diesen Demonstrationen auch dieses Bedürfnis nach einem uns verbindenden „Wir“ sehen. Und wichtig ist auch, dass wir wahrnehmen: Wir sind nicht in der Republik von Weimar. Weimar hatte eine gute Verfassung und eine gute Demokratie, aber nicht genug Demokraten. Unser Land hat eine gute Verfassung und glaubwürdige Institutionen und sehr viele Demokraten. Das soll uns auch eine innere Sicherheit verleihen. Wir übersehen weder Hass noch Demokratiefeindschaft. Aber wir sind umgeben von all den Menschen, die diese wirtschaftlich und politisch stabile Republik geschaffen haben und die ihre Rechte und ihren freiheitlichen Lebensstil erhalten wollen. Das ist ein Bollwerk, auf das ich mich in diesen unruhigen Zeiten verlasse.
Das Gespräch führten Yvonne Backhaus-Arnold, Holger Weber-Stoppacher und Jan-Otto Weber.