Familienangelegenheit

„Trauma“: Wann das Verhältnis zwischen Geschwistern toxisch werden kann

  • Giorgia Grimaldi
    VonGiorgia Grimaldi
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Die Forschung ignorierte sie, dabei ist sie die längste, die wir haben: In der Beziehung zwischen Geschwisterkinder ist vieles möglich – und das hat Konsequenzen.

„Schon immer hast du … !“ oder „Nie tust du … !“, so beginnt häufig Streit zwischen Geschwistern. Wir schleudern uns Anschuldigungen entgegen und berufen uns auf Fehler des anderen in der Jahrzehnte zurückliegenden Kindheit. Ein Gemeinheit jagt die nächste, bis einer weint – oder ein anderes Familienmitglied eingreifen muss, manchmal auch beides.

Geht es um Lappalien, sind solche Konflikte schnell überwunden. Oft sprechen wir von einem „unzertrennlichem Band“ zwischen Geschwistern. Eine Verbundenheit, die mit Freundschaft kaum zu erreichen ist. Wie auch, immerhin teilen wir mit unseren Brüdern und Schwestern nicht nur dieselben Gene, sondern auch die Herkunft. Wir wachsen in der Regel im selben Elternhaus auf, haben denselben kulturellen und finanziellen Background, werden von denselben Personen großgezogen.

Tag der Geschwister

Warum wir unsere Geschwister nicht mögen

Verschwisterte Kinder, die sich nicht verstehen oder gar hassen, empfinden wir dagegen häufig als Anomalie. Dabei gehen Brüder und Schwestern nicht immer durch dick und dünn. Gleichgültige oder negative Gefühle zu den Geschwistern gibt es genauso wie Bruderherz und Schwesterherz.

Aus Sicht der Entwicklungswissenschaft und der Evolution ist es völlig normal, dass wir uns mit den Geschwistern zoffen, denn wir sind in erster Linie Konkurrenten. Alles beginnt mit dem einen großen Schock – dem „Entthronungstrauma“. Die Psychoanalyse beschreibt damit das Gefühl der Erstgeborenen, die mit Geburt des Geschwisterkindes plötzlich nicht mehr an der ersten Stelle stehen. Ab diesem Moment konkurrieren Kinder um alles, von der Aufmerksamkeit der Eltern bis zum letzten Butterkeks.

Laut Experten sind bis zu sechs Streitigkeiten pro Stunde normal. Romantisieren wir also die Beziehung zu unseren Geschwistern und ist ein konfliktbeladenes Verhältnis die Norm? Nicht unbedingt, sagt Inés Brock-Harder, Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Therapeutin bei Geschwisterproblematiken. Gegenüber BuzzFeed News Deutschland, ein Portal von Ippen.Media, erklärt die Expertin: „Geschwister sind eine unterschätzte Ressource“. Die Beziehung zu ihnen sei die längste, die wir in unserem Leben führen. „Und wir wissen heute, dass sie uns mehr prägen als unsere Eltern. In der Familienpsychologie haben wir uns aber zu lange auf die Beziehung zu den Eltern fokussiert“.

Intim bis toxisch – diese verschiedene Geschwistertypen gibt es

Es gibt verschiedene Ansätze, um die Beziehung zwischen Brüdern und Schwestern zu verstehen. Etwa die Einteilung in verschiedene Typen. So treten „intime Geschwister“ oft als beste Freunde auf, „kongeniale Geschwister“ empfinden eine starke Zuneigung, während „loyale Geschwister“ vor allem der gemeinsame familiäre Hintergrund verbindet.

Geschwister in einer „apathischen Beziehungen“ stehen sich gleichgültig gegenüber. Sie empfinden trotz der familiären Verbindung keine Nähe. Beim fünften Typ ist Geschwisterbeziehung von Feindseligkeit geprägt. Dabei ist keinesfalls nur von infantilem Gezanke die Rede. Erhebungen zeigen, dass sich zwischen Geschwistern Machtgefälle und toxische Dynamiken inklusive Gewalt bilden können – und anders als bei Freunden und Bekannten, können wir diese Beziehungen nicht eigenständig wählen oder gar beenden.

Sind Einzelkinder doch besser dran?

Die Geschwisterbeziehung ist also prägend für unser Leben, im Guten wie im Schlechten. Ist das Einzelkind-Dasein ohne Risiko auf Trauma durch die jüngeren oder Machtmissbrauch der älteren Kinder nicht doch angenehmer? Laut einer aktuellen Studie der Ohio State University geht es Einzelkindern tatsächlich psychisch besser als Geschwisterkindern. So zeigten Kinder mit einem oder mehr Geschwistern vermehrt depressive Symptome oder Angststörungen. Dabei spielt der Altersunterschied eine besondere Rolle. Je größer die Distanz zwischen den Geschwistern war, desto besser ging es ihnen.

Die Forschenden erklären das mit der Ressourcenverteilungshypothese. Demnach konkurrieren gleichaltrige Kinder mehr um die Ressourcen der Eltern. Kritiker der Studie bemängeln aber, dass dies nur die Beziehung zwischen Eltern und Kinder betreffe, während die Ressourcen, die Geschwister einander geben können, nicht abgebildet werden.

Wie sich die Geschwisterbeziehung im Laufe des Lebens verändert

Hinzukommt: Die Beziehung zu unseren Geschwistern verändert sich mit den Lebensumständen. In der Geschwisterforschung ist oft von der „U-Kurve“ die Rede. Demnach stehen sich Geschwister in der Kindheit sehr nahe. In der Pubertät gehen sie auf Distanz, entwickeln eigene Interessen und Charaktereigenschaften. Mit zunehmenden Alter, Berufsleben oder der eigenen Familiengründung, steigt das Interesse an Geschwistern wieder, oft wird die Beziehung dann enger.

Aber auch das ist nur ein möglicher Verlauf – eine Vorhersage, wie sich die Beziehung zu den eigenen Geschwistern entwickelt, ist nicht möglich. Ambivalenz ist die einzige Konstante, denn auch im Erwachsenenalter beeinflussen zu viele Faktoren diese Beziehung, etwa die Partnerwahl der Schwester oder des Bruders. Diese Vielzahl an Faktoren beutetet ein stetiges Risiko für Krach. Es bedeutet aber auch, dass wir viele Chancen auf Entwicklung und Versöhnung haben, sodass selbst die erbittertsten Rivalen noch innige Geschwister werden können.

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