Neue Chance
Geisterdörfer in NRW: Jetzt erwachen sie aus dem Dornröschenschlaf
VonPeter Siebenschließen
Fünf Dörfer waren dem Untergang geweiht, sie sollten abgerissen werden. Jetzt bleiben sie doch erhalten. Die letzten Einwohner haben schon Pläne für die Zukunft.
Erkelenz – Die Ungewissheit hat jetzt ein Ende für Tina Drese. Jahrelang mussten sie, ihre Familie und dutzende weitere Einwohner bangen: Wird ihre Heimat bald abgerissen? Jetzt steht fest: Die Dörfer am Rand vom Tagebau Garzweiler bleiben erhalten. Endgültig, daran ist nicht mehr zu rütteln. „Das ist eine unglaubliche Erleichterung“, sagt Tina Drese, die im Tagebaudorf Kuckum bei Erkelenz wohnt. Der Ort ist einer von fünf weiteren Ortschaften, denen lange der Abriss drohte: Denn tief unter den teils uralten Dörfchen liegt Braunkohle, die der Energiekonzern RWE abbaggern wollte. Doch nach der neuesten Leitentscheidung der NRW-Landesregierung darf er das nicht mehr: Der vorgezogene Kohleausstieg 2030 ist besiegelt, die Dörfer bleiben.
Allerdings ist vom einstigen Dorfleben nicht mehr viel übrig. Tina Drese und ihre Familie gehören zu den wenigen, die geblieben sind. Von den einst 500 Einwohnern leben jetzt noch höchstens 40 dort. Das gilt auch für die Nachbarorte Keyenberg, Berverath, Oberwestrich und Unterwestrich. Sie sind Geisterdörfer, viele Häuser stehen leer, ihnen droht der Verfall. Doch soweit wird es nicht kommen, ist sich Tina Drese sicher – ganz im Gegenteil: „Jetzt können die Dörfer bald wieder leben“, sagt sie. Die Bewohner sollen künftig mehr Mitbestimmung haben, was die Zukunft der Orte betrifft – das freue sie besonders, sagt Drese.
Leitentscheidung für Tagebau Garzweiler: Dörfer bleiben erhalten
Denn die Einwohner haben schon eine klare Vorstellung davon, wie es hier bald einmal aussehen soll. „Die Dörfer sollen zum Vorbild für andere kleine Orte in ländlichen Regionen werden“, sagt Drese. Man wolle zeigen, wie Dorfleben mit modernen Ansprüchen in Einklang gebracht werden kann. Eine Vision: Ein „gesunder Tourismus“, bei dem die Orte zu Ausflugszielen werden, wie Drese sagt.
Tagebau-Dörfer sollen auch Touristenziele werden
Die fünf Dörfer haben in der Tat eine attraktive Lage, Großstädte wie Köln, Düsseldorf oder Aachen sind in 30 Minuten erreichbar. Der nahe Tagebau Garzweiler zieht jetzt schon Menschen an, die die apokalyptische Landschaft aus der Nähe betrachten wollen. Spätestens, wenn aus dem Tagebauloch der zweitgrößte See Deutschlands geworden ist, soll die Gegend ein Touristenziel und Naherholungsgebiet werden.
Tagebau Garzweiler: Warum ganze Dörfer abgerissen werden
► 1983 entstand der Braunkohlentagebau Garzweiler als Zusammenschluss der schon existierenden Abbaufelder Frimmersdorf-Süd und Frimmersdorf-West. Der Energiekonzern RWE baut hier pro Jahr 35–40 Millionen Tonne Braunkohle ab.
► Die Braunkohle, die für die Energiegewinnung in Kohlekraftwerken verwendet wird, liegt manchmal auch unter Ortschaften. Wenn es zur Sicherung der Energieversorgung notwendig ist, müssen die Ortschaften weichen. Die Einwohner werden dann umgesiedelt, die Dörfer abgerissen.
► Die fünf Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Unterwestrich, Oberwestrich und Berverath am Tagebau Garzweiler sollten auch zerstört werden. Doch im Koalitionsvertrag der schwarz-grünen NRW-Landesregierung wurde beschlossen, dass die Orte stehen bleiben. Mit der neuen Leitentscheidung ist das endgültig.
► Lützerath hingegen wurde im Januar 2023 geräumt und abgerissen.
Auch darauf will man sich vorbereiten. „Es gibt hier jetzt keinen Bäcker mehr. Das wollen wir ändern und Cafés eröffnen. Die alten Ortskerne und der dörfliche Charakter sollen erhalten bleiben“, sagt Tina Drese, die auch bei der „Dörfergemeinschaft Kultur Energie“ mitmacht, einem Zusammenschluss der Dorfbewohner, die die Zukunft der Orte gestalten wollen.
Ex-Bewohner der Dörfer am Tagebau Garzweiler haben nach Leitentscheidung Vorkaufsrecht
Jetzt hoffen sie hier, dass bald wieder mehr Menschen in die Dörfer kommen. Daran hat auch die Landesregierung gedacht. Während der vergangenen Jahrzehnte hatte es Umsiedlungsprogramme gegeben, neue Dörfer sind entstanden, in denen viele der ehemaligen Bewohner jetzt leben – oft schon in zweiter Generation. Ein Punkt in der neuen Leitentscheidung: Frühere Bewohner mit Umsiedlerstatus sowie deren Kinder sollen eine zeitlich befristete Vorkaufsoption bekommen und können ihre alten Häuser zurückkaufen.
Das betrifft nicht nur die fünf Dörfer am Tagebau Garzweiler, sondern auch den ebenfalls verlassenen Ort Morschenich am Tagebau Hambach. Die meisten Häuser dort gehören RWE. Unter den Ex-Bewohnern gibt es mit Blick auf das frühere Eigentum keine einheitliche Meinung, das Thema ist mit großer Emotionalität behaftet. Manche wollen zurück, andere in ihren neuen Häusern bleiben. Und manche sind entschieden dagegen, dass ihr früheres Zuhause bald neue Bewohner bekommen könnte.
Lützerath wurde nicht gerettet
Lützerath, das sechste Dorf, war nicht gerettet worden. Es musste weichen, damit RWE die Braunkohle darunter abbaggern und den Abraum für die Rekultivierung nutzen kann. Vehement war der Ort am Tagebau Garzweiler von Aktivistinnen und Aktivisten verteidigt worden, bei der Lützerath-Räumung war es auch immer wieder zu Gewaltszenen zwischen Polizei und Klimaaktivisten gekommen.
Auch Kerpen-Manheim, die ehemalige Heimat von Formel-1-Rennfahrer Michael Schumacher am Tagebau Hambach, ist seit Jahren verlassen. (pen, mit dpa-Material)